🐾 Teil 10: Ein Wiedersehen jenseits der Zeit
Der Morgen nach dem Abdruck war still.
Der Nebel hing tief über Bad Orb und dämpfte jedes Geräusch.
Im Garten glänzte das Gras, als trüge es kleine Lichter.
Friederike kniete an der Stelle, wo die Spur im Tau gelegen hatte.
Sie legte die Hand auf das kühle Holz der Gartentür.
Ihr Herz schlug ruhig, nicht mehr ängstlich, sondern bereit.
Alma saß am Küchentisch.
Vor ihr lagen das Notizbuch von Eberhard, die getrocknete Blume und der Füllfederhalter.
Sie trug das dunkelblaue Kleid, das sie seit Jahren nicht mehr angezogen hatte.
„Heute schreibe ich den letzten Brief“, sagte sie.
Ihre Stimme war hell, als käme sie von weit her und doch ganz nah.
„Du liest ihn mir am Abend an der Brücke vor.“
Friederike setzte sich und füllte die Tinte nach.
Alma nahm den Füller, als würde eine alte Freundschaft wieder in die Hand gleiten.
Sie schrieb langsam, Satz für Satz, und machte nur kurze Pausen.
„Mein lieber Aro, heute komme ich ohne Angst. Ich danke dir für das Leben, das du mir geschenkt hast, als der Winter meine Hände nahm. Ich danke dir für die Tage, an denen du vor der Tür gewacht hast, wenn ich müde war. Wenn du gehst, gehst du nicht fort. Du bleibst in dem Wasser, das wir kennen, in dem Wind an der Eiche, in dem Licht auf der Bank. Warte nicht länger, wenn es dich müde macht. Ich finde dich, wo Treue wohnt.“
Sie legte den Füller ab und atmete tief.
Der Brief roch nach Tinte und Herbst.
Friederike trocknete die Zeilen mit Löschpapier, so zärtlich, als trockne sie Tränen.
Ruben kam gegen Mittag.
Aro legte den Kopf auf Almas Knie, still und ernst.
Im Fell des Hundes lag ein Schimmer, der nicht nur vom Licht kam.
„Ich möchte vor dem Abend noch einmal zum Forsthaus“, sagte Alma.
„Ich will eine Spur hinterlassen, die nicht wehtut.“
Ruben nickte und holte den Wagen.
Der Weg nach Roßbach führte an abgeernteten Wiesen vorbei.
In den Gräben stand klares Wasser.
Am Rand des Waldes lag ein dünner Schleier aus Sonne.
Hedda Lenzen öffnete die Tür, bevor sie klopften.
Ihre Schürze roch nach Lauch und Brühe.
Sie führte sie in die Stube und legte ein altes Gästebuch auf den Tisch.
„Mein Großvater nannte es das Heft der Wege“, sagte sie.
„Wer hier wirklich etwas fand, schrieb seinen Namen hinein.“
Sie reichte Alma einen Bleistift.
Alma schrieb langsam ihren vollen Namen.
Darunter setzte sie ein einziges Wort.
Danke.
Hedda sah sie lange an und nickte.
„Der Hund mit dem hellen Fleck hat hier gewartet, so sagten sie. Dann ist er weitergegangen, aber nicht fort.“
Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und lächelte ohne Eile.
Im Hof stand die Bank aus dem Waldfestfoto.
Die Lehne war dunkel vom Wetter, das Holz glatt vom Sitzen.
Alma strich darüber, als lege sie eine Hand auf die Stirn eines Freundes.
„Wir kommen am Abend wieder an den Fluss“, sagte sie leise.
„Dort ist sein Tor.“
Ruben nickte, und Aro stellte die Ohren, als habe er das Wort verstanden.
Am Nachmittag schlief Alma eine Stunde.
Ihr Atem war ruhig, wie das Wasser im Kreuzborn.
Friederike saß daneben und ordnete die Briefe in einer schmalen Mappe.
Sie band die Mappe mit einem blauen Band.
Auf das Deckblatt schrieb sie mit fester Hand.
Briefe an Aro.
Die Sonne sank, der Tag wurde weich.
Sie gingen zu dritt in den Kurpark.
Der Fluss klang, als würde er eine alte Geschichte noch einmal erzählen.
Die Erlenbrücke lag still im goldenen Licht.
Die Bank am Brückenkopf trug die Kiste, die sie am Morgen gepackt hatten.
Darauf lag der Brief, den Alma geschrieben hatte.
„Lies“, sagte sie.
Ihre Finger ruhten auf dem Holz, warm und sicher.
Friederike stand und begann, Wort für Wort, ohne Eile.
Als die letzten Sätze im Abend lagen, hob Aro den Kopf.
Der Wind hörte auf zu gehen, die Blätter hielten inne.
Ein Ton stand im Raum, ein Atem, den man nicht sah.
Am anderen Ende der Brücke trat ein Hund aus dem Licht.
Er war groß und schwarz, und seine Augen trugen den Sommer von früher.
Sein Fell schien aus Schatten und Tag zugleich.
Alma ging auf ihn zu, Schritt für Schritt.
Ruben hob die Hand, doch ließ sie nicht zurück.
Aro setzte sich und wartete.
Alma blieb in der Mitte der Brücke stehen.
Sie legte die Hand in die Luft, dort, wo die Schnauze des Hundes sein musste.
Ihr Gesicht öffnete sich, als gehe eine Tür nach Hause auf.
„Du hast gut gewartet“, sagte sie.
„Nun darfst du gehen, wohin dich das Wasser ruft.“
Der Schatten senkte den Kopf, einmal, sehr langsam.
Friederike spürte Tränen und lächelte zugleich.
Ruben stand still, als wolle er nicht atmen.
Aro gab einen Ton von sich, tief und kurz, wie ein Ja.
Dann löste sich die Gestalt im Abend.
Sie ging nicht fort, sie wurde dünn wie Licht und trug den Fluss in sich.
Die Luft roch nach Moos und Fernweh.
Alma kehrte zur Bank zurück.
Sie setzte sich und legte die Hand auf die Mappe mit den Briefen.
Ihr Lächeln war das eines Mädchens, das den Heimweg kennt.
„Es ist gut“, sagte sie.
„Mehr ist nicht nötig.“
Die Dämmerung nahm die Brücke sanft in die Arme.
Sie gingen schweigend nach Hause.
Im Flur blieb Alma stehen und sah den Gang hinunter, als stünde dort jemand und warte.
Dann legte sie die Mappe auf den Küchentisch und strich das blaue Band glatt.
In dieser Nacht schlief Alma früh ein.
Friederike saß an ihrem Bett und hielt ihre Hand.
Der Mond legte eine helle Spur auf die Decke.
Kurz vor Mitternacht hob Alma den Kopf.
Sie sah an Friederike vorbei in eine Ecke des Zimmers.
Ihre Lippen formten ein einziges Wort.
Aro.
Ihr Atem wurde leichter, dann ruhte er.
Die Stille war groß, aber nicht hart.
Sie fühlte sich an wie ein See ohne Wind.
Am Morgen roch die Küche nach Kaffee und Tinte.
Die Mappe lag auf dem Tisch, das blaue Band offen.
Ein Haar lag daneben, dunkel und fein wie ein Strich.
Die nächsten Tage gingen leise.
Ruben kümmerte sich um die Wege, die zu gehen waren.
Hedda schrieb aus Roßbach eine Karte, klein und warm.
Friederike ordnete das Haus.
Sie legte die Briefe in eine Schachtel aus hellem Holz.
In die Schachtel legte sie auch das alte Halsband.
Am Abend trug sie die Schachtel an den Fluss.
Ruben ging neben ihr, Aro folgte.
Sie setzten die Schachtel unter die Bank, nicht als Versteck, sondern als Ort.
Der Fluss hörte zu.
Das Holz berührte Stein, und es klang, als schliefe etwas gut.
Eine Amsel sang, kurz und hell.
Die Zeit wurde herbstlich.
Blätter lösten sich von den Erlen und drehten sich wie kleine Boote.
Aro ging nun gemächlicher, doch sein Blick blieb wach.
An einem frühen Morgen im Oktober lag der erste Hauch von Frost auf dem Weg.
Friederike lief die Kurparkallee hinunter und hielt an der Brücke.
Im Reif standen vier frische Abdrücke, groß und ruhig.
Sie legte die Hand auf das Holz des Geländers.
Es war kalt und freundlich.
Im Wasser lag ein sanfter Dunst, der nach Moos roch.
„Ich schreibe auch“, sagte sie laut.
Sie holte aus der Tasche ein kleines Heft.
Die erste Seite blieb sie einen Moment an.
„Lieber Aro, ich gehe deine Wege weiter. Ich halte die Bank warm und das Wasser sauber. Wenn jemand fällt, rufe ich, so gut ich kann. Und wenn du einmal wieder wartest, findest du mich am Licht.“
Sie schloss das Heft und steckte es zurück.
Aro stand neben ihr und legte den Kopf gegen ihre Hüfte.
Sein Fell war warm, sein Atem ruhig.
Am Nachmittag ging sie mit Ruben nach Roßbach.
Im Forsthaus hing nun eine Kopie des Fotos an der Wand.
Darunter stand in kleiner Schrift ein Satz.
Er blieb, weil er gerufen wurde.
Hedda schenkte ihnen Tee und hörte, ohne zu fragen.
Der Hof roch nach Holz und nach Regen.
Als sie gingen, blieb die Tür noch lange offen.
Der Winter kam langsam.
Schnee fiel an einem Abend, der nach Brot roch.
Die Brücke lag weiß und still, und der Fluss trug kleine Ränder aus Eis.
Friederike ging auch dann, wenn es kalt war.
Sie legte die Hand an das Geländer und nannte den Namen leise.
Es war kein Ruf, mehr ein Gruß.
Manchmal antwortete nichts als der Wind.
Manchmal hörte sie tief im Wasser einen Ton, der wie ein Lächeln klang.
Manchmal sah sie im Neuschnee ein Paar Spuren, die am Licht begannen und am Licht endeten.
Der Frühling machte die Wege wieder weich.
Auf dem Kreuzborn lag ein Spiegel aus Blau.
Die Ferneiche stand fest und sah in das Tal.
An einem Abend im Mai fand Friederike am Gartenzaun ein Bündel Stoff.
Darin lag ein schwarzer Welpe, mager und müde, mit einem hellen Fleck an der Brust.
Seine Augen waren groß und still.
Sie hob ihn auf, und er zitterte, aber nicht vor Furcht.
Aro trat heran und berührte den Kleinen an der Stirn.
Dann setzte er sich und sah Friederike an, lange und klar.
Sie trug den Welpen in die Küche und legte ihn auf eine Decke.
Das alte Halsband lag auf der Schachtel und glänzte still.
Friederike lächelte, ohne zu fragen.
„Wir nennen dich, wie man einen Weg nennt“, sagte sie.
Sie beugte sich zu ihm und flüsterte den Namen in sein Ohr.
Er hob den Kopf, als hätte er ihn schon gekannt.
Am Abend gingen sie zu dritt zur Brücke.
Das Licht war mild, der Fluss sprach leise.
Friederike legte die Hand auf das Holz und sagte den Namen noch einmal.
Der Welpe antwortete mit einem Ton, der kaum ein Laut war.
Aro stand dahinter, ruhig wie ein alter Baum.
Der Fluss nahm den Ton und trug ihn fort.
Und in der letzten Stunde des Lichts, als die Schatten lang wurden,
hörte Friederike ein einziges Bellen aus der Ferne, warm und tief.
Es klang wie ein Dank und wie ein Zuhause.
Sehr leise und doch ganz nah.