📖 Teil 4
Der Umschlag war in krakeliger Kinderschrift beschriftet:
“Für Leo – den Hund, der zuhört.”
Emil hob ihn mit beiden Händen aus dem Kasten, als wäre er aus Glas.
Wilhelm stand daneben, die Stirn gerunzelt.
„Das ist neu.“
Sie setzten sich auf die Bank, Leo legte den Kopf auf Emils Knie.
„Ich darf?“ fragte Emil.
Wilhelm nickte.
Der Junge öffnete vorsichtig den Brief. Ein gefaltetes liniertes Blatt kam zum Vorschein, mit Buntstift bemalt.
Oben war ein Bild von Leo, darunter stand in blauer Tinte:
Lieber Leo,
meine Mama sagt, dass unser Hund Mia heute eingeschläfert werden muss.
Sie hat gesagt, ich soll stark sein, aber ich will das nicht.
Kannst du Max fragen, ob er auf Mia aufpasst?
Ich vermiss sie schon jetzt.
Dein Freund, Jonas (8 Jahre alt)
Emil schluckte.
Wilhelm wandte den Blick ab, blinzelte in die Abendsonne.
„Manchmal“, sagte er leise, „verstehen Kinder den Tod besser als Erwachsene.
Sie stellen keine Fragen, auf die es keine Antworten gibt.“
Leo stand auf, trat zum Briefkasten und schnüffelte daran.
Dann setzte er sich davor, als ob er wüsste, dass heute ein ganz anderer Brief gekommen war.
Am nächsten Tag nahm Wilhelm zum ersten Mal seit Jahren wieder Papier zur Hand, das nicht für Max bestimmt war.
Er schrieb langsam, mit seiner besten Handschrift.
Lieber Jonas,
Leo hat deinen Brief gelesen – ich habe es gesehen.
Und ich glaube, Max hat Mia schon abgeholt.
Dort, wo Hunde hingehen, wenn sie nicht mehr bei uns bleiben können, ist viel Platz.
Und Leo sagt, dass man Liebe nicht verliert, wenn man jemanden gehen lässt.
Dein alter Postbote Wilhelm (und Leo)
Er steckte den Brief mit einem kleinen Leckerli in den Kasten.
Am Nachmittag kam Emil mit einer Frage:
„Kann man das auch für Menschen machen? Einen Brief schreiben, an jemanden, der nicht mehr da ist?“
Wilhelm sah ihn an.
„An wen würdest du schreiben?“
Emil zögerte.
„An meinen Papa. Ich kenn ihn nicht. Nur aus Fotos. Mama sagt, er war krank im Kopf. Und dann… ist er einfach verschwunden. Für immer.“
Wilhelm legte den Arm um die Schultern des Jungen.
„Dann schreib. Auch wenn du ihn nie gesehen hast. Manchmal hilft das Herz dem Kopf, Worte zu finden.“
Emil schrieb.
Hallo Papa,
Ich weiß nicht, ob du noch irgendwo bist.
Aber falls du mich siehst – ich bin Emil.
Ich gehe manchmal zu Wilhelm, er ist mein Freund.
Und Leo auch.
Ich wünschte, du hättest ihn kennengelernt. Er ist mutig. Und traurig manchmal. So wie ich.
Ich bin nicht mehr so oft wütend. Und ich weine auch nicht mehr heimlich im Bad.
Vielleicht bin ich ein kleines bisschen stark geworden.
Aber nur ein kleines bisschen.
Wilhelm faltete den Brief mit Respekt und stellte ihn nicht in den Max-Kasten, sondern in einen neuen Umschlag.
Er schrieb außen nichts.
Nur legte er ihn später in eine alte Zigarrenschachtel, auf der stand:
“Dinge, die bleiben.”
In den folgenden Wochen änderte sich Eichenwalde.
Nicht laut. Nicht offensichtlich.
Aber spürbar.
Die Bäckersfrau legte plötzlich kleine Zettel in ihre Brötchentüten:
„Heute einen Gruß an Max schicken?“
Ein Rentnerpaar spendete einen neuen Anstrich für den Briefkasten.
Ein Versicherungsmakler aus dem Ort spendete anonym eine Summe an die Tierarztpraxis – „für unversicherte Fälle mit Fell“, stand auf der Überweisung.
Emil las die Briefe nicht mehr allein.
Immer öfter saßen drei, vier Kinder um den Kasten herum.
Und Leo lag dazwischen, ließ sich geduldig streicheln.
Einmal kam ein Brief von einem älteren Herrn:
An Max,
Ich bin 72, verwitwet, und habe letzte Woche zum ersten Mal laut geweint.
Es war nur eine Werbung im Fernsehen – ein Hund, der vor der Tür wartete.
Und plötzlich war meine Lisa wieder da, mit nassen Pfoten und Blicken, die verzeihen konnten.
Ich wollte nur sagen: Danke. Dass du uns erinnerst, dass Trauer ein Zuhause haben darf.
Wilhelm las den Brief laut vor.
Die Kinder sagten nichts.
Aber einer streichelte Leo ein bisschen länger.
Dann, an einem Dienstagmorgen, kam ein anderer Umschlag.
Dick. Hochwertiges Papier. Absender: „Klinikum Nordhessen – Psychosoziale Dienste“
Wilhelm runzelte die Stirn.
„Soll ich?“ fragte Emil.
Wilhelm nickte.
Der Brief war sachlich, aber warm.
Sehr geehrter Herr Bernhardt,
durch eine Patientin und ihren Enkel sind wir auf Ihre besondere Initiative aufmerksam geworden.
Die Briefe an Max und Leo haben nicht nur therapeutischen, sondern auch gesellschaftlichen Wert.Wir möchten Sie fragen, ob Sie sich vorstellen könnten, Teil eines kleinen Pilotprojekts zur Förderung seelischer Gesundheit älterer Menschen im ländlichen Raum zu werden.
Es geht nicht um Verpflichtungen, sondern um Möglichkeiten.
Mit herzlichem Gruß,
Dr. Miriam Lenz
Wilhelm faltete das Schreiben langsam zusammen.
„Ich bin kein Therapeut. Ich bin nur ein alter Mann, der seinem Hund schreibt.“
Emil grinste.
„Vielleicht braucht genau das die Welt.“
An diesem Abend saß Wilhelm lange allein auf der Bank.
Leo schlief an seinen Füßen. Die Dämmerung zog über die Felder.
Er dachte an Max.
An Hannelore.
An das Sparkassenheft, das fast leer war, aber gereicht hatte.
An Versicherungen, die er nie abgeschlossen hatte – und an all das, was nie abgesichert war: Verluste, Erinnerungen, zweite Chancen.
Und dann dachte er an Jonas.
An Emil.
An Leo.
Er holte einen neuen Umschlag, schrieb mit fester Hand:
„An die Zukunft, die leise beginnt.“
Am nächsten Morgen lag ein einzelner Brief im Kasten – mit einer Frage, die Wilhelm das Herz stocken ließ:
„Darf Leo mich für einen Tag begleiten – in die Klinik?“
🔔 Was hat das Kind in der Klinik vor? Und wird Leo tatsächlich helfen können? Teil 5 bringt die Antwort – und neue Hoffnung.