Briefkasten ohne Antwort | Ein Briefkasten, ein alter Mann und ein Hund, der nie ganz gegangen ist.

📖 Teil 6

Wilhelm hielt das Foto mit beiden Händen.
Es war vergilbt, an den Rändern eingerissen.

Darauf zu sehen: ein kleiner Hund mit goldbraunem Fell, ein Junge – vielleicht zehn Jahre alt – und eine Frau mit dunklem Zopf.
Der Hund trug dasselbe zerfledderte Halstuch, das Leo nun fast täglich umhatte.

Auf der Rückseite stand:
„Ich weiß, wer Leo wirklich ist. Bitte kommen Sie zur alten Werkstatt hinter dem Bahnhof. Freitag, 17 Uhr. – H.K.“

Wilhelm starrte lange auf die Initialen.
H.K.?
Er konnte sich niemanden vorstellen.

Emil stand neben ihm, runzelte die Stirn.

„Meinst du, das ist ein Trick?“

Wilhelm schüttelte langsam den Kopf.
„Nein. Das ist eine Geschichte, die erzählt werden will.“


Am Freitag machte sich Wilhelm früher als gewöhnlich auf den Weg.
Er nahm Leo mit, aber nicht an der Leine.

Der Hund lief freiwillig neben ihm, ruhig, aufmerksam, als würde er wissen, dass heute etwas passieren würde.

Die Werkstatt hinter dem alten Bahnhof war halb verfallen.
Efeu kroch an den Wänden hoch, das Dach war an mehreren Stellen eingestürzt.

Wilhelm trat vorsichtig durch die knarzende Tür.
Drinnen roch es nach Öl, Staub – und nach Vergangenheit.

Ein Mann stand am Fenster.
Sein Rücken war gebeugt, das Haar schütter, doch sein Blick klar.

„Herr Bernhardt?“ fragte er.

Wilhelm nickte.
„Und Sie sind…?“

„Holger Kessler. Ich war früher Tierpfleger im Tierheim Lautertal.“
Er ging zu einer kleinen Truhe, öffnete sie und holte ein Heft hervor.

„Wir haben Leo vor knapp einem Jahr dort aufgenommen. Er war in einem jämmerlichen Zustand. Unterernährt. Aggressiv – aber nur aus Angst.“

Wilhelm sah zu Leo, der jetzt ruhig an seiner Seite saß und mit der Rute leicht auf den Boden klopfte.

„Er hat nicht gefressen, nicht gebellt. Nur geschlafen und geträumt. Immer mit Geräuschen. Winseln, manchmal Knurren.
Aber dann… kam ein Junge.“

Kessler hielt inne.

„Der Junge auf dem Foto?“

Der Mann nickte.

„Er hieß Tim. Zehn Jahre alt. Pflegesohn. Hat jeden Tag drei Stunden im Heim ausgeholfen.
Und Leo – der hieß damals noch Sammy – hat sich an ihn gebunden. So wie ein Schatten.

Sie waren unzertrennlich.
Aber dann… wurde Tim überraschend in eine neue Familie gegeben.
Ohne Abschied.“

Wilhelm spürte einen Stich in der Brust.

„Leo ist in Panik geraten. Ist ausgebrochen. Und dann verschwunden. Wochenlang. Wir haben überall gesucht.“

Kessler zog ein weiteres Bild hervor. Es war verwackelt, aufgenommen von einer Überwachungskamera.
Leo – jünger, mager – lief durch ein Dorf.
Eichenwalde.

„Ich dachte, er sei tot“, flüsterte Kessler.
„Und dann… sah ich den Artikel in der Zeitung. Den Briefkasten. Den Hund auf dem Foto.“

Wilhelm sagte leise:
„Und Sie haben das Bild geschickt.“

„Ja. Und ich wollte Ihnen danken. Dass Sie ihn aufgenommen haben. Dass Sie ihm etwas gegeben haben, was wir nicht mehr konnten: Vertrauen.“

Leo trat langsam vor, stupste Kessler an der Hand.
Der Mann kniete sich hin, streichelte vorsichtig über Leos Kopf.

„Er hat sich verändert“, sagte er.

„Er hat uns verändert“, erwiderte Wilhelm.


Auf dem Rückweg schwieg Wilhelm.
Leo lief neben ihm, als würde er ihn beschützen.

„Ein verlorener Hund, ein verlorener Junge…“ murmelte Wilhelm.
„Vielleicht gehören sie einander.“

Am Abend erzählte er Emil alles.

Der Junge hörte still zu.
„Dann hat Leo also auch jemanden verloren“, sagte er schließlich.
„So wie du. So wie ich.“

Wilhelm nickte.
„Deshalb passt er so gut zu uns.“


Am nächsten Tag brachte Emil einen neuen Brief mit.
Er hatte ihn selbst geschrieben.

Lieber Tim,
ich weiß nicht, wo du bist.
Aber Leo ist bei uns.
Er ist nicht mehr allein. Aber ich glaube, er vermisst dich.
Wenn du das liest – vielleicht kannst du kommen. Oder schreiben.

Wir sind nicht viele hier. Aber wir sind ehrlich.

Dein Freund Emil

Sie legten den Brief nicht in den Kasten.
Sondern Wilhelm rief Kessler an und bat ihn, ihn weiterzuleiten.


Eine Woche verging. Dann zwei.
Keine Antwort.

Leo wurde ruhiger. Träumte wieder häufiger.
Wilhelm wusste nicht, ob es gut war, die Vergangenheit aufzuwühlen.

Doch dann, an einem regnerischen Mittwoch, lag ein Brief im Kasten.
Kein Umschlag. Nur ein gefaltetes Blatt.
Und eine Handschrift, die vor Unsicherheit zitterte.

An Leo:
Ich hab dich nicht vergessen.
Aber ich hab gedacht, du hättest mich vergessen.
Ich wusste nicht, dass du noch lebst.
Manchmal hab ich geträumt, du kommst zurück.

Ich bin jetzt dreizehn. Ich wohn nicht mehr bei denen. Aber ich darf bald alleine reisen.
Wenn du willst… kann ich kommen.

– Tim

Wilhelm reichte Emil das Blatt.
Der Junge riss die Augen auf.

„Er hat geschrieben!“

Leo bellte – und rannte zur Tür.


Zwei Tage später, kurz nach Mittag, hielt ein kleiner Regionalbus vor Wilhelms Haus.
Ein Junge mit dunklem Haar, Rucksack und nervösem Blick stieg aus.

Leo stand schon bereit.
Als er Tim sah, rannte er los.

Kein Zögern. Kein Schnuppern. Nur ein einziger, langer Laut – halb Bellen, halb Winseln.
Dann sprang er hoch, legte die Pfoten auf Tims Brust, wedelte so stark mit dem Schwanz, dass die Blätter um sie herum flogen.

Tim sank in die Hocke. Umarmte Leo. Vergrub das Gesicht in seinem Fell.

„Du bist wirklich noch da…“

Wilhelm trat näher.
„Willkommen, Tim.“

Der Junge stand auf.
„Darf ich… bleiben? Nur ein paar Tage?“

Wilhelm nickte.
„Solange du willst.“


Am Abend saßen sie zu dritt auf der Bank.
Leo lag zwischen ihnen, wie immer.
Doch etwas war anders. Ruhiger. Vollständig.

„Ich glaube“, sagte Emil leise, „Leo hat jetzt zwei Zuhause.“

Wilhelm lächelte.
„Und das zweite hat er sich selbst ausgesucht.“


In dieser Nacht hörte Wilhelm ein Geräusch am Fenster – als er hinaussah, stand dort ein Mädchen mit einem Brief in der Hand…

🔔 Wer ist das Mädchen am Fenster – und was steht in ihrem Brief? Teil 7 öffnet eine neue Tür in Leos Geschichte.

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