📖 Teil 7
Sie stand still wie eine Statue, nur ihr blondes Haar flatterte im Wind.
Das Mädchen vor dem Fenster sah aus, als gehöre sie nicht ganz in diese Welt – zu sauber für die Straße, zu traurig für den Spielplatz.
Wilhelm öffnete die Tür.
Leo stand bereits wachsam im Flur, doch er knurrte nicht. Stattdessen trat er vorsichtig hinaus, wie jemand, der spürt, dass hier etwas zerbrechlich ist.
Das Mädchen reichte Wilhelm wortlos einen Brief.
Er war mit einem Seidenband verschnürt, der Umschlag aus grauem Papier.
Oben stand in krakeliger Schrift:
„Für den Hund, der zuhört. Und für den Mann, der nicht vergisst.“
„Wie heißt du, Kind?“ fragte Wilhelm sanft.
„Paulina. Ich wohne bei der Pflegemama oben am Hang.“
Sie zeigte in Richtung der alten Villa, die seit Jahren als betreutes Wohnheim für Kinder galt.
„Darf ich Leo sehen?“ fragte sie.
Wilhelm nickte.
„Er hat schon auf dich gewartet.“
Paulina kniete sich hin, streichelte Leo über den Kopf.
„Er ist genau wie auf dem Foto.“
Wilhelm runzelte die Stirn.
„Welches Foto?“
„Das im Aufenthaltsraum. Bei uns hängt eine Zeitungsseite mit ihm.
Mit dem roten Briefkasten.
Ich hab jeden Tag draufgeschaut. Und dann heute… hab ich’s nicht mehr ausgehalten.“
Sie hielt den Brief mit beiden Händen.
„Ich muss etwas loswerden, sonst platze ich.“
Im Wohnzimmer zündete Wilhelm eine kleine Lampe an.
Emil und Tim kamen verschlafen dazu – es war spät, doch niemand war wirklich müde.
„Darf ich’s vorlesen?“ fragte Paulina.
Wilhelm reichte ihr den Brief zurück.
Sie entrollte das Band, atmete tief durch, und las:
Lieber Hund mit dem weichen Blick,
Ich habe seit zwei Jahren nicht mehr gesprochen.
Die Lehrer sagen, ich sei stumm. Aber das stimmt nicht.
Ich hab nur Angst, dass Worte etwas kaputtmachen.Aber du machst nichts kaputt. Du bist still. Und stark.
Ich glaube, wenn du mein Geheimnis hörst, fällt es nicht auseinander.
Mein Papa hat mir nie zugehört.
Meine Mama war oft weg. Dann ganz.
Jetzt bin ich bei Menschen, die nett sind.
Aber sie sehen mich nur von außen.Ich bin mehr als meine Akte.
Deshalb schreibe ich dir.
Und dem alten Mann, der jeden Tag schreibt, als würde es helfen.Ich will auch anfangen.
Paulina blickte auf. Tränen standen ihr in den Augen, aber sie zitterte nicht.
Tim flüsterte:
„Du hast grad gesprochen.“
Paulina nickte langsam.
„Ich wollte, dass jemand da ist, der nicht gleich antwortet. Der einfach nur… bleibt.“
Leo trat zu ihr, leckte ihr sacht über die Hand.
„Ich glaube, er hat dich verstanden“, sagte Wilhelm.
Am nächsten Tag kam Paulina wieder – und blieb.
Nicht für immer, aber für oft.
Sie half Wilhelm beim Sortieren der Briefe, setzte sich zu den Kindern, die nach der Schule kamen.
Leo ließ sie nicht aus den Augen.
Wilhelm beobachtete sie – wie sie langsam, mit jedem Tag mehr, aus dem Schatten trat.
Am Freitag schlug Emil etwas vor:
„Was, wenn wir nicht nur Briefe schreiben?
Was, wenn wir ein richtiges Postamt machen? Für Gedanken.
Jeder darf was einwerfen. Und jeder darf was lesen – wenn der andere es erlaubt.“
Wilhelm schmunzelte.
„Du meinst eine Gedankenbank?“
„Genau! So wie eine Sparkasse für Gefühle.“
Tim holte einen alten Holzkasten, Paulina malte Schilder.
Ein Nachbar brachte eine Sitzbank.
Jemand spendete ausrangierte Briefträger-Taschen.
So entstand der Gedankenkasten – direkt neben dem Max-Kasten.
Die Menschen kamen.
Still.
Allein.
Oder zu zweit.
Sie saßen, schrieben, weinten manchmal.
Manche sprachen gar nicht. Aber sie gingen mit einem Brief in der Hand wieder fort – oder ließen einen zurück.
Wilhelm führte ein kleines Logbuch:
„Eingegangen: 9.
Geöffnet: 4.
Beantwortet: 3.
Gehalten: Alle.“
Eines Morgens fand Wilhelm im Max-Kasten einen Brief ohne Text.
Nur eine Versicherungspolice lag darin, beigelegt ein Zettel:
„Ich hatte niemanden zum Vererben. Jetzt habe ich euch.“
Es war eine Tierkrankenversicherung – abgeschlossen auf Leo, mit Wilhelm als Halter.
Wilhelm las das Formular fünfmal.
Er wusste nicht, wer es geschickt hatte.
Aber er verstand die Botschaft:
Jemand hatte gesehen, dass Liebe manchmal auch in Formularen steckt.
Dann kam der Tag, an dem Leo nicht aufstehen wollte.
Er fraß langsamer, bewegte sich steif.
Wilhelm streichelte ihm über die Flanke – fühlte einen Knoten.
Die Tierärztin, Frau Dr. Kretschmer, kam sofort.
Nach einer langen Untersuchung sah sie Wilhelm ruhig an.
„Er ist nicht jung. Und das hier…“ – sie zeigte auf den Befund –
„…wird mit der Zeit wehtun.“
„Was können wir tun?“ fragte Emil.
„Wir können es ihm leicht machen. Sanft. Liebevoll.
Und wir können zuhören, wenn er uns zeigt, wann es Zeit ist.“
Wilhelm saß in dieser Nacht lange bei Leo.
Tim schlief im Sessel, Paulina auf der Couch.
Emil lag auf dem Boden, den Kopf auf Leos Bauch.
Keiner sprach.
Aber jeder fühlte: Das, was zählte, war da.
Am nächsten Morgen fehlte Leo – die Tür war angelehnt, und auf der Bank lag nur sein Halstuch…
🔔 Wohin ist Leo verschwunden? Ist es sein Abschied – oder ein letzter Brief, den er bringen will? Teil 8 führt uns dorthin.