Briefkasten ohne Antwort | Ein Briefkasten, ein alter Mann und ein Hund, der nie ganz gegangen ist.

📖 Teil 9

Luma.

Der Name schien ihr zu gefallen.
Die kleine Hündin leckte vorsichtig über Wilhelms Finger, dann schob sie sich langsam aus der Box.

Ihre Bewegungen waren zögerlich, wie bei jemandem, der nicht wusste, ob er willkommen ist.

„Sie ist noch jung“, murmelte der Mann vom Tierschutz. „Aber sie hat Schlimmes erlebt. Wir fanden sie zitternd hinter einer Bushaltestelle. Kein Chip, kein Halsband – nur ein Zettel mit dem Namen Luma. Und dem Max-Kasten.“

Paulina kniete sich hin, hielt der Hündin vorsichtig die Hand hin.
„Sie riecht nach Angst“, sagte sie leise.

Tim legte seinen Rucksack ab, zog eine alte Kaustange hervor – Leos Lieblingsstück.
„Vielleicht kennt sie den Geruch. Vielleicht gehört sie schon länger zu dieser Geschichte, als wir wissen.“

Emil schwieg. Er beobachtete Luma, wie sie erst zögerte, dann ganz langsam die Kaustange nahm.
Seine Stimme war brüchig, aber klar:
„Ich glaube… Leo hat sie geschickt.“

Wilhelm legte die Hand auf Emils Schulter.
„Oder jemand, der verstanden hat, dass kein Briefkasten für immer leer bleibt.“


In den folgenden Tagen lernte Luma schnell.

Sie fraß vorsichtig, aber mit Appetit.
Sie schlief auf der alten Decke, auf der Max gelegen hatte, und später Leo.

Und sie bellte nicht – kein einziges Mal.

Aber sie hörte zu.

Wenn Paulina las, legte sie den Kopf schief.
Wenn Tim zeichnete, legte sie sich neben ihn.

Wenn Emil traurig war, stupste sie ihn an, als wolle sie sagen: Ich bin da.

Wilhelm sah all das – und spürte, wie etwas in ihm heilte, das er nicht einmal benennen konnte.


Ein paar Tage später stand ein neuer Brief im Kasten.
Nicht handgeschrieben – sondern gedruckt, akkurat.

Das Logo einer Anwaltskanzlei prangte oben links.

Wilhelm öffnete ihn mit ernster Miene, setzte sich auf die Bank.

Sehr geehrter Herr Bernhardt,

im Auftrag eines anonymen Mandanten möchten wir Ihnen mitteilen,
dass eine Spende in Höhe von 7.500 Euro auf ein für Sie neu eingerichtetes Treuhandkonto eingezahlt wurde.
Verwendungszweck: Erhaltung des Gedankenkastens und tiergestützte Begleitung.

Die Mittel sind für tierärztliche Versorgung, Pflegebedarf und notwendige Infrastruktur vorgesehen.

Wir danken Ihnen für Ihre Arbeit.

Mit freundlichen Grüßen,
Kanzlei Herbst & Partner

Wilhelm las den Brief zweimal, dann reichte er ihn Emil.

Der Junge starrte auf die Summe.

„Ist das viel?“

Wilhelm lächelte.
„Es ist genug, um zu bleiben.“


Sie bauten eine kleine Überdachung für den Gedankenkasten.
Ein Junge aus dem Dorf, dessen Vater Zimmermann war, half ihnen beim Gerüst.

Eine Rentnerin aus dem Ort stiftete wetterfeste Hüllen für die Briefe.
Der Bäcker brachte jeden Samstag Kekse – für die Leseratten mit Herz, wie er sagte.

Und Luma?
Luma wurde zur stummen Seele des Platzes.

Nicht wie Leo – der Wächter, der Heiler.
Luma war wie ein Echo.

Sie spiegelte das, was andere fühlten.

Und manchmal, so glaubte Paulina, schloss sie beim Zuhören kurz die Augen – als würde sie in den Worten Bilder sehen.


Eines Abends, als der Wind durch die Bäume rauschte, saßen sie alle auf der Bank.
Wilhelm, Emil, Tim, Paulina – und Luma zu ihren Füßen.

„Weißt du noch“, sagte Emil, „wie das alles begann?
Ein alter Mann. Ein Brief. Und ein Name: Max.“

Wilhelm nickte.

„Ich wollte nur einen Ort für meine Trauer.
Aber ich habe einen Ort für Hoffnung gebaut – ohne es zu merken.“

Tim sagte leise:
„Leo hat uns nicht verlassen. Er hat uns weitergeschickt.“

„So wie ein Brief“, ergänzte Paulina.
„Man weiß nicht, wo er landet. Aber wenn er ankommt, verändert er etwas.“

Wilhelm stand auf, holte ein kleines Buch aus der Jackentasche.
„Ich habe etwas geschrieben. Kein Brief. Ein Testament – für den Gedankenkasten.“

Er öffnete das Heft.
Die Kinder schauten gespannt.

Ich, Wilhelm Bernhardt,
ehemaliger Briefträger, Witwer, Freund von Max, Leo und Luma,
übertrage den Fortbestand des Gedankenkastens an euch – Emil, Tim, Paulina –
damit Worte nie verloren gehen und kein Herz vergessen wird.

Der Kasten gehört euch.
Die Briefe gehören allen.

Und die Liebe… gehört niemandem allein.

Emil schluckte.
„Du meinst das ernst?“

Wilhelm nickte.
„Ich bin alt. Aber ihr seid jung – und tragt ihn weiter.

Max hat mich bewacht. Leo hat mich geführt.
Und Luma… erinnert mich daran, dass jedes Ende nur ein leiser Anfang ist.“


In der Nacht konnte Wilhelm lange nicht schlafen.
Er hörte Lumas ruhiges Atmen, das Knistern der alten Dielen.
Er trat ans Fenster.

Der Max-Kasten leuchtete im Mondlicht.
Daneben stand jetzt ein zweiter – weiß gestrichen.
Oben in goldener Schrift: Für das, was noch kommt.

Wilhelm lächelte.


Am Morgen lag ein einziger Brief im neuen weißen Kasten – darin nur ein Satz:
„Ich bin bereit, nach Hause zu kommen. – H.“


🔔 Wer ist „H.“ – und wo ist sein Zuhause? Das große Finale in Teil 10 bringt alle Fäden zusammen.

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