Jeden Abend saß sie am Fenster – und beobachtete ihn.
Ein streunender Hund, allein auf dem Gehweg, mit Blicken, die zu ihr sprachen.
Sie kannte seinen Rhythmus, sein Zögern, seine Stille.
Doch an diesem Winterabend tat sie etwas, das sie seit Jahren nicht mehr gewagt hatte.
Sie öffnete das Fenster – und rief leise seinen Namen.
🔹 Teil 1: Der Hund mit dem traurigen Blick
Mathilde Brohm war zweiundachtzig Jahre alt und kannte den Klang ihrer Wohnung wie ein altes Lied:
das leise Ticken der Standuhr, das ferne Summen der Straßenbahnlinie 6,
und das Knarren der Diele, wenn sie im Morgenlicht barfuß zur Fensterbank ging.
Sie lebte im dritten Stock eines Altbaus in Görlitz, Ecke Luisenstraße.
Seit dem Tod ihres Mannes Franz vor 14 Jahren war sie allein geblieben.
Die Kinder schrieben Postkarten zu Weihnachten, riefen manchmal an.
Aber ihr treuster Besucher war nicht menschlich.
Er kam jeden Abend.
Ein großer, zotteliger Hund, mit grauem Fell und einem lahmenden Bein.
Sein linkes Ohr hing schief, und in seinen bernsteinfarbenen Augen lag etwas,
das Mathilde an ihre Kindheit erinnerte – an Stille, an Hunger, an Verlust.
Sie wusste nicht, woher er kam.
Nur, dass er immer gegen fünf Uhr kam,
sich unter die alte Kastanie legte gegenüber ihres Fensters,
den Kopf zwischen die Pfoten,
und einfach – wartete.
Zuerst hatte sie es für Zufall gehalten.
Aber dann kam der Hund auch bei Regen.
Bei Schnee.
An Weihnachten.
An ihrem Geburtstag.
Sie begann, ihm einen Namen zu geben.
“Basil”, flüsterte sie einmal ins leere Zimmer.
„Du siehst aus wie ein Basil.“
Der Name blieb.
Im Laufe der Wochen stellte sie eine Schüssel mit Wasser an das Fenstersims –
zwei Stockwerke zu hoch, damit er sie nicht sehen konnte,
aber nah genug, dass sie sich dabei fühlte, als würde sie etwas tun.
Dann begann sie, trockenes Brot zu sammeln,
legte es auf ein zerbrochenes Tellerchen am Laternenpfahl.
Am nächsten Morgen war es weg.
Immer.
Im Januar 2023 fiel der erste Schnee.
Mathilde saß im Sessel mit ihrer grauen Strickjacke und blickte hinaus.
Der Wind peitschte gegen die Fensterscheiben,
und Basil war da.
Zitternd.
Durchnässt.
Sein Atem dampfte in der Kälte.
Mathilde legte die Hand auf die Fensterscheibe.
So viel Zeit war vergangen.
So viele Abende waren sie sich nah und doch getrennt gewesen.
„Ach, Basil“, flüsterte sie.
„Du solltest nicht da draußen sein.“
Sie stand auf – langsam, mit knirschenden Knien und klopfendem Herzen –
ging zur Tür und öffnete sie.
Der Flur roch nach Bohnerwachs und Erinnerung.
Ihre Schritte hallten.
Unten angekommen, zögerte sie.
Die Tür war alt. Schwergängig.
Der Schnee hatte sich in Schichten vor dem Eingang gestapelt.
Sie öffnete.
Ein eisiger Schwall Luft fuhr ihr unter die Jacke.
Basil hob den Kopf.
Sie wusste nicht, ob er sie kannte.
Aber er sah sie.
Sie kniete sich hin.
Ihre Finger zitterten.
Sie klopfte leise auf ihre Oberschenkel.
„Komm… mein Junge.“
Er blieb sitzen.
Sein Körper angespannt.
Dann, langsam, erhob er sich.
Sein Bein schleifte leicht.
Er ging einen Schritt.
Noch einen.
Und dann –
Ein Hupen. Laut. Schrill.
Ein Auto raste um die Ecke.
Ein silberner Kombi.
Viel zu schnell.
Der Fahrer lenkte nicht.
Mathilde schrie.
„NEIN!“
Doch Basil war schon auf der Straße.
Teil 2: Ein Gast auf vier Pfoten
Das Quietschen der Reifen hallte in ihrem Kopf nach,
noch während Stille über die Straße fiel.
Mathilde stand wie versteinert.
Der silberne Kombi war längst weitergefahren,
ohne anzuhalten.
Und Basil?
Er lag nicht.
Er stand auch nicht.
Er saß – auf dem Gehweg,
nur Zentimeter vom Bordstein entfernt,
das linke Ohr flatterte leicht im Wind.
Mathilde presste beide Hände auf ihr Herz.
Ein Wunder.
Oder Zufall.
Oder einfach Glück.
„Komm“, flüsterte sie heiser,
und diesmal kam er wirklich.
Langsam.
Vorsichtig.
Als hätte er in seinem Leben gelernt,
dass Nähe oft Schmerz bedeutete.
Sie hielt ihm die Tür auf.
Der Flur schien plötzlich zu eng,
zu leise für das, was da geschah.
Basil trat ein.
Sein Fell tropfte auf die Fliesen.
Sein Blick wanderte durch das fremde Treppenhaus,
als suche er nach einem sicheren Winkel.
Mathilde ging voran –
Stufe für Stufe,
mit zittrigen Beinen und pochendem Herzen.
Er folgte.
Kein Laut.
Nur das leise Kratzen seiner Krallen auf dem Holz.
In ihrer Wohnung war es warm.
Die Heizung knisterte.
Der Duft von Kamillentee hing noch in der Luft.
Basil blieb an der Tür stehen.
Mathilde ging in die Küche, holte ein altes Handtuch.
Sie kniete sich zu ihm,
vorsichtig,
legte das Tuch auf seinen Rücken
und begann, ihn zu trocknen.
Er zuckte nicht.
Er ließ es zu.
Die Nähe war neu für beide.
Sie sprach nicht.
Er bellte nicht.
Später, als sie sich erhob,
schlich er ihr langsam ins Wohnzimmer nach.
Dort stand der große grüne Sessel mit den ausgeblichenen Armlehnen.
Daneben lag ein kleines Kissen,
auf das sie früher ihre Füße gelegt hatte,
als Franz noch lebte und das Radio leise Jazz spielte.
Sie zeigte auf das Kissen.
„Wenn du willst“, sagte sie.
Er legte sich.
Nicht sofort.
Aber doch.
Mit einem langen, tiefen Seufzer.
Mathilde setzte sich in den Sessel,
deckte sich mit der Wolldecke zu,
und schaute aus dem Fenster.
Die Straße war still.
Der Laternenmast glänzte im Regenlicht.
Und sie wusste:
Irgendetwas hatte sich verändert.
In ihr.
In ihm.
Vielleicht in der Welt.
Sie nannte ihn leise noch einmal:
„Basil.“
Er hob den Kopf,
sein Blick traf ihren.
Er verstand nicht das Wort –
aber den Ton.
Und in diesem Augenblick,
als beide still da saßen,
wusste sie:
Er würde bleiben.
Teil 3: Erinnerungen im Hundefell
Die Tage wurden heller,
aber in Mathildes Wohnung blieb alles gedämpft –
so, wie sie es mochte.
Sie mochte den leisen Rhythmus der Morgende,
das Zittern der Gardinen im Wind,
den Geruch von frischem Kaffee,
und jetzt:
das sanfte Schnaufen eines Hundes,
der unter dem Esstisch lag
wie ein verlorener Schatten,
der endlich nach Hause gefunden hatte.
Basil war still.
Er bellte nie.
Er sprang nicht.
Er verlangte nichts.
Und doch –
war seine Präsenz überall.
Er folgte ihr mit den Augen,
wenn sie zur Spüle ging.
Er legte sich in den Flur,
wenn sie auf der Toilette war.
Und nachts –
lag er auf dem Teppich vor dem Schlafzimmer,
als sei es seine Aufgabe,
über ihre Träume zu wachen.
An einem Sonntagmorgen,
als die Kirchenglocken von St. Jakobus erklangen,
setzte sich Mathilde auf das alte Sofa
mit der gehäkelten Decke,
ein dampfender Tee in der Hand.
Basil sprang nicht aufs Sofa.
Er lag neben ihr,
den Kopf auf den Pfoten.
„Weißt du“, begann sie leise,
„ich hatte mal einen Hund. Lange her. Noch vor dem Krieg.“
Basil bewegte sich nicht.
Aber sie sprach weiter.
„Er hieß Moritz. War kleiner als du. Dackel.
Mein Vater hat ihn damals aus dem Wald geholt.
Verwundet war er, am Bein.
Wie du.“
Ihre Stimme zitterte kurz.
„Dann kam der Winter ‘44. Und Vater ging nicht mehr raus.
Und Moritz auch nicht.“
Sie schwieg.
Dann beugte sie sich vor,
legte eine faltige Hand auf Basils Kopf
und flüsterte:
„Aber du – du bist wiedergekommen.“
Es war das erste Mal,
dass sie weinte.
Nicht laut.
Nicht dramatisch.
Nur ein Tropfen.
Still.
Am Abend holte sie ein altes Fotoalbum hervor.
Die Seiten waren vergilbt,
die Ecken gebogen.
Sie zeigte Basil ein Bild:
Ein junger Mann in Uniform.
Ihr Franz.
„Er hat Hunde gehasst, weißt du das?“
Sie lächelte.
„Und trotzdem… hätte er dich gemocht.“
Basil rückte näher,
legte sein Kinn an ihr Bein.
Sie streichelte ihn stumm,
das Bild noch auf dem Schoß,
und zum ersten Mal seit Jahren
fühlte sich Mathilde nicht mehr
wie ein Kapitel, das keiner mehr liest.