Jeden Abend saß sie am Fenster – und beobachtete ihn.
Ein streunender Hund, allein auf dem Gehweg, mit Blicken, die zu ihr sprachen.
Sie kannte seinen Rhythmus, sein Zögern, seine Stille.
Doch an diesem Winterabend tat sie etwas, das sie seit Jahren nicht mehr gewagt hatte.
Sie öffnete das Fenster – und rief leise seinen Namen.
🔹 Teil 1: Der Hund mit dem traurigen Blick
Mathilde Brohm war zweiundachtzig Jahre alt und kannte den Klang ihrer Wohnung wie ein altes Lied:
das leise Ticken der Standuhr, das ferne Summen der Straßenbahnlinie 6,
und das Knarren der Diele, wenn sie im Morgenlicht barfuß zur Fensterbank ging.
Sie lebte im dritten Stock eines Altbaus in Görlitz, Ecke Luisenstraße.
Seit dem Tod ihres Mannes Franz vor 14 Jahren war sie allein geblieben.
Die Kinder schrieben Postkarten zu Weihnachten, riefen manchmal an.
Aber ihr treuster Besucher war nicht menschlich.
Er kam jeden Abend.
Ein großer, zotteliger Hund, mit grauem Fell und einem lahmenden Bein.
Sein linkes Ohr hing schief, und in seinen bernsteinfarbenen Augen lag etwas,
das Mathilde an ihre Kindheit erinnerte – an Stille, an Hunger, an Verlust.
Sie wusste nicht, woher er kam.
Nur, dass er immer gegen fünf Uhr kam,
sich unter die alte Kastanie legte gegenüber ihres Fensters,
den Kopf zwischen die Pfoten,
und einfach – wartete.
Zuerst hatte sie es für Zufall gehalten.
Aber dann kam der Hund auch bei Regen.
Bei Schnee.
An Weihnachten.
An ihrem Geburtstag.
Sie begann, ihm einen Namen zu geben.
“Basil”, flüsterte sie einmal ins leere Zimmer.
„Du siehst aus wie ein Basil.“
Der Name blieb.
Im Laufe der Wochen stellte sie eine Schüssel mit Wasser an das Fenstersims –
zwei Stockwerke zu hoch, damit er sie nicht sehen konnte,
aber nah genug, dass sie sich dabei fühlte, als würde sie etwas tun.
Dann begann sie, trockenes Brot zu sammeln,
legte es auf ein zerbrochenes Tellerchen am Laternenpfahl.
Am nächsten Morgen war es weg.
Immer.
Im Januar 2023 fiel der erste Schnee.
Mathilde saß im Sessel mit ihrer grauen Strickjacke und blickte hinaus.
Der Wind peitschte gegen die Fensterscheiben,
und Basil war da.
Zitternd.
Durchnässt.
Sein Atem dampfte in der Kälte.
Mathilde legte die Hand auf die Fensterscheibe.
So viel Zeit war vergangen.
So viele Abende waren sie sich nah und doch getrennt gewesen.
„Ach, Basil“, flüsterte sie.
„Du solltest nicht da draußen sein.“
Sie stand auf – langsam, mit knirschenden Knien und klopfendem Herzen –
ging zur Tür und öffnete sie.
Der Flur roch nach Bohnerwachs und Erinnerung.
Ihre Schritte hallten.
Unten angekommen, zögerte sie.
Die Tür war alt. Schwergängig.
Der Schnee hatte sich in Schichten vor dem Eingang gestapelt.
Sie öffnete.
Ein eisiger Schwall Luft fuhr ihr unter die Jacke.
Basil hob den Kopf.
Sie wusste nicht, ob er sie kannte.
Aber er sah sie.
Sie kniete sich hin.
Ihre Finger zitterten.
Sie klopfte leise auf ihre Oberschenkel.
„Komm… mein Junge.“
Er blieb sitzen.
Sein Körper angespannt.
Dann, langsam, erhob er sich.
Sein Bein schleifte leicht.
Er ging einen Schritt.
Noch einen.
Und dann –
Ein Hupen. Laut. Schrill.
Ein Auto raste um die Ecke.
Ein silberner Kombi.
Viel zu schnell.
Der Fahrer lenkte nicht.
Mathilde schrie.
„NEIN!“
Doch Basil war schon auf der Straße.
Teil 2: Ein Gast auf vier Pfoten
Das Quietschen der Reifen hallte in ihrem Kopf nach,
noch während Stille über die Straße fiel.
Mathilde stand wie versteinert.
Der silberne Kombi war längst weitergefahren,
ohne anzuhalten.
Und Basil?
Er lag nicht.
Er stand auch nicht.
Er saß – auf dem Gehweg,
nur Zentimeter vom Bordstein entfernt,
das linke Ohr flatterte leicht im Wind.
Mathilde presste beide Hände auf ihr Herz.
Ein Wunder.
Oder Zufall.
Oder einfach Glück.
„Komm“, flüsterte sie heiser,
und diesmal kam er wirklich.
Langsam.
Vorsichtig.
Als hätte er in seinem Leben gelernt,
dass Nähe oft Schmerz bedeutete.
Sie hielt ihm die Tür auf.
Der Flur schien plötzlich zu eng,
zu leise für das, was da geschah.
Basil trat ein.
Sein Fell tropfte auf die Fliesen.
Sein Blick wanderte durch das fremde Treppenhaus,
als suche er nach einem sicheren Winkel.
Mathilde ging voran –
Stufe für Stufe,
mit zittrigen Beinen und pochendem Herzen.
Er folgte.
Kein Laut.
Nur das leise Kratzen seiner Krallen auf dem Holz.
In ihrer Wohnung war es warm.
Die Heizung knisterte.
Der Duft von Kamillentee hing noch in der Luft.
Basil blieb an der Tür stehen.
Mathilde ging in die Küche, holte ein altes Handtuch.
Sie kniete sich zu ihm,
vorsichtig,
legte das Tuch auf seinen Rücken
und begann, ihn zu trocknen.
Er zuckte nicht.
Er ließ es zu.
Die Nähe war neu für beide.
Sie sprach nicht.
Er bellte nicht.
Später, als sie sich erhob,
schlich er ihr langsam ins Wohnzimmer nach.
Dort stand der große grüne Sessel mit den ausgeblichenen Armlehnen.
Daneben lag ein kleines Kissen,
auf das sie früher ihre Füße gelegt hatte,
als Franz noch lebte und das Radio leise Jazz spielte.
Sie zeigte auf das Kissen.
„Wenn du willst“, sagte sie.
Er legte sich.
Nicht sofort.
Aber doch.
Mit einem langen, tiefen Seufzer.
Mathilde setzte sich in den Sessel,
deckte sich mit der Wolldecke zu,
und schaute aus dem Fenster.
Die Straße war still.
Der Laternenmast glänzte im Regenlicht.
Und sie wusste:
Irgendetwas hatte sich verändert.
In ihr.
In ihm.
Vielleicht in der Welt.
Sie nannte ihn leise noch einmal:
„Basil.“
Er hob den Kopf,
sein Blick traf ihren.
Er verstand nicht das Wort –
aber den Ton.
Und in diesem Augenblick,
als beide still da saßen,
wusste sie:
Er würde bleiben.
Teil 3: Erinnerungen im Hundefell
Die Tage wurden heller,
aber in Mathildes Wohnung blieb alles gedämpft –
so, wie sie es mochte.
Sie mochte den leisen Rhythmus der Morgende,
das Zittern der Gardinen im Wind,
den Geruch von frischem Kaffee,
und jetzt:
das sanfte Schnaufen eines Hundes,
der unter dem Esstisch lag
wie ein verlorener Schatten,
der endlich nach Hause gefunden hatte.
Basil war still.
Er bellte nie.
Er sprang nicht.
Er verlangte nichts.
Und doch –
war seine Präsenz überall.
Er folgte ihr mit den Augen,
wenn sie zur Spüle ging.
Er legte sich in den Flur,
wenn sie auf der Toilette war.
Und nachts –
lag er auf dem Teppich vor dem Schlafzimmer,
als sei es seine Aufgabe,
über ihre Träume zu wachen.
An einem Sonntagmorgen,
als die Kirchenglocken von St. Jakobus erklangen,
setzte sich Mathilde auf das alte Sofa
mit der gehäkelten Decke,
ein dampfender Tee in der Hand.
Basil sprang nicht aufs Sofa.
Er lag neben ihr,
den Kopf auf den Pfoten.
„Weißt du“, begann sie leise,
„ich hatte mal einen Hund. Lange her. Noch vor dem Krieg.“
Basil bewegte sich nicht.
Aber sie sprach weiter.
„Er hieß Moritz. War kleiner als du. Dackel.
Mein Vater hat ihn damals aus dem Wald geholt.
Verwundet war er, am Bein.
Wie du.“
Ihre Stimme zitterte kurz.
„Dann kam der Winter ‘44. Und Vater ging nicht mehr raus.
Und Moritz auch nicht.“
Sie schwieg.
Dann beugte sie sich vor,
legte eine faltige Hand auf Basils Kopf
und flüsterte:
„Aber du – du bist wiedergekommen.“
Es war das erste Mal,
dass sie weinte.
Nicht laut.
Nicht dramatisch.
Nur ein Tropfen.
Still.
Am Abend holte sie ein altes Fotoalbum hervor.
Die Seiten waren vergilbt,
die Ecken gebogen.
Sie zeigte Basil ein Bild:
Ein junger Mann in Uniform.
Ihr Franz.
„Er hat Hunde gehasst, weißt du das?“
Sie lächelte.
„Und trotzdem… hätte er dich gemocht.“
Basil rückte näher,
legte sein Kinn an ihr Bein.
Sie streichelte ihn stumm,
das Bild noch auf dem Schoß,
und zum ersten Mal seit Jahren
fühlte sich Mathilde nicht mehr
wie ein Kapitel, das keiner mehr liest.
Teil 4: Die Spaziergänge beginnen
Es begann mit dem Briefkasten.
Ein kurzer Gang,
achtundvierzig Stufen hinunter,
eine steife Hüfte,
und Basil an ihrer Seite.
Sie hatte sich lange nicht hinausgewagt.
Nicht, seit der Schlaganfall ihrer Schwester
sie zu einer anderen Version ihrer selbst gemacht hatte:
vorsichtiger, stiller,
ein bisschen gebrochener.
Doch mit Basil fühlte sich selbst das Treppenhaus weniger fremd an.
Er ging langsam,
immer ein, zwei Stufen hinter ihr,
als wüsste er um ihre Angst zu stürzen.
Unten angekommen, blieb sie stehen.
Der Wind fuhr ihr in die Haare,
die Kastanie rauschte.
Die Laterne, unter der Basil einst lag,
war noch da –
nur diesmal stand sie daneben.
Sie machte einen Schritt.
Dann noch einen.
Ihre Finger hielten die Leine,
aber sie wusste:
Er würde nicht ziehen.
Sie gingen nur bis zur Straßenecke.
Dann zurück.
Zehn Minuten.
Ein Sieg.
Am nächsten Tag wagten sie zwei Straßen weiter.
Und so wuchs es.
Tag für Tag.
Meter für Meter.
Die Nachbarn begannen sie zu bemerken.
Herr Leopold vom Tabakladen nickte ihr zu.
Frau Klein vom Blumenstand sagte:
„Schön, Sie mal wieder draußen zu sehen, Frau Brohm.“
Und Mathilde –
lächelte.
Nicht nur mit den Lippen.
Mit den Augen.
Mit dem Herzen.
An einem Mittwoch im März
setzte sie sich auf eine Parkbank,
Basil lag zu ihren Füßen.
Kinder rannten,
eine Amsel sang.
Ein kleiner Junge blieb stehen,
zeigte auf Basil und fragte:
„Ist das Ihr Hund, Oma?“
Mathilde sah den Jungen an.
Dann sah sie Basil.
Er hob den Kopf,
sah zu ihr hoch.
Und sie sagte zum ersten Mal laut:
„Ja. Das ist mein Hund.“
Der Junge nickte zufrieden
und rannte weiter.
Mathilde lächelte noch,
als sie später nach Hause ging.
Die Sonne stand tief.
Ihr Schatten tanzte neben Basils.
Und sie dachte:
Vielleicht war sie nicht nur wieder draußen –
vielleicht war sie wieder
lebendig.
Teil 5: Der Adventskranz und das Flüstern
Der Dezember kam leise.
Mit Nebel, der sich wie Watte um die Dächer legte,
mit Atemwolken auf dem Weg zum Bäcker,
und mit Kerzenlicht,
das sich in Fensterscheiben spiegelte.
Mathilde liebte diese Zeit.
Immer schon.
Nicht wegen der Geschenke.
Sondern wegen der Stille.
Und wegen der Lichter.
Sie holte den alten Adventskranz aus dem Schrank.
Der Tannenduft war kaum noch da,
aber die Erinnerungen hafteten noch an jeder Schleife.
Franz hatte ihn vor vierzig Jahren selbst gebunden.
Damals, als sie noch zusammen sangen,
während draußen der Schnee fiel.
„Es kommt ein Schiff, geladen…“
Sie stellte den Kranz auf den Couchtisch.
Daneben ein kleiner Napf mit Leckerlis für Basil.
Er lag wie immer am Fenster,
den Blick nach draußen gerichtet,
aber die Ohren stets auf sie abgestimmt.
„Komm her“, sagte sie.
„Ich hab was für dich.“
Er kam.
Langsam, aber zielstrebig.
Und als sie ihm das Leckerli gab,
spürte sie seine Zunge, warm und vorsichtig,
wie eine Antwort.
Am Nikolaustag nähte sie ihm ein Halstuch.
Aus einem alten Kissenbezug,
mit kleinen, roten Sternen drauf.
Sie nähte langsam –
jede Naht wie ein Gedanke.
Als sie ihm das Tuch umband,
stand er still,
als spürte er,
dass es mehr war als Stoff.
Es war Zuneigung.
Und vielleicht – ein Versprechen.
In der Nacht fiel der erste Schnee.
Sie weckte Basil sanft,
zog sich den Wollmantel über
und trat mit ihm auf den Balkon.
Die Welt war weiß.
Verschluckt.
Gedämpft.
Basil sah hoch.
Einzeln fielen die Flocken auf seine Schnauze.
Er blinzelte,
drehte sich kurz im Kreis,
und legte sich an ihre Füße.
Sie streichelte ihn.
Lange.
Ohne Eile.
Dann flüsterte sie:
„Du bist mein letzter Trost.“
Ein Satz, der aus ihr fiel
wie ein Gebet,
das zu lange gewartet hatte.
Sie wusste,
dass er die Worte nicht verstand.
Aber er legte den Kopf auf ihren Fuß.
Und das reichte.
Teil 6: Der Tag ohne Schritte
Der Winter hielt die Stadt fest.
Die Kastanie gegenüber war nur noch ein schwarzes Gerippe im Schnee.
Und in Mathildes Wohnung war alles wie immer –
bis es das nicht mehr war.
Basil lag auf dem gewohnten Teppich,
vor dem Schlafzimmer.
Dort, wo er jede Nacht wachte,
jedes Atmen hörte,
jede Bewegung wahrnahm.
Doch heute –
war da nichts.
Keine Schritte.
Kein Licht.
Kein Murmeln, kein Teekessel.
Nur Stille.
Er wartete.
Er hob den Kopf,
legte ihn wieder ab.
Hob ihn erneut.
Dann stand er auf.
Langsam.
Bedacht.
Er kratzte leise an der Tür.
Einmal.
Zweimal.
Keine Antwort.
Er winselte kaum hörbar.
Dann setzte er sich.
Wartete.
Draußen wurde es hell.
Die Vögel begannen zaghaft zu singen.
Im Treppenhaus klapperte ein Briefkastenschlüssel.
Doch in der Wohnung blieb es dunkel.
Und kalt.
Am späten Nachmittag klopfte jemand an die Tür.
Frau Klein vom Blumenstand.
Sie hatte bemerkt, dass das Fenster heute leer blieb.
Keine Silhouette. Kein Basil. Keine Mathilde.
„Frau Brohm?“ rief sie.
Keine Antwort.
Sie öffnete mit dem Ersatzschlüssel,
den Mathilde ihr vor Jahren anvertraut hatte.
Drinnen roch es nach getrockneten Kräutern und alter Wolle.
Und nach… Abwesenheit.
Frau Klein betrat das Schlafzimmer.
Basil wich nicht von der Bettkante.
Sein Kopf lag ruhig auf der Matratze.
Sein Blick war leer.
Traurig.
Er wusste es längst.
Mathilde lag da,
die Decke bis zum Kinn,
die Augen geschlossen,
die Hände gefaltet.
Friedlich.
Still.
Ein leichtes Lächeln auf den Lippen,
als hätte sie im Traum jemanden wiedergefunden.
Frau Klein trat näher.
Tränen liefen ihr über die Wangen.
Sie strich über Mathildes Stirn
und flüsterte:
„Gute Reise, meine Liebe.“
Basil hob kurz den Kopf,
seine Augen ruhten auf ihr.
Dann legte er sich wieder hin,
dicht an Mathildes Seite.
Er blieb dort die ganze Nacht.
Und niemand hatte das Herz,
ihn wegzuschicken.
Teil 7: Ein letzter Gruß
Die Wohnung war leer.
Nicht im möblierten Sinn –
sondern in jenem stillen, schweren Sinn,
den nur der Tod zurücklässt.
Basil war geblieben,
auch als die Männer vom Bestattungsinstitut kamen.
Auch als die Nachbarn flüsterten.
Auch als der Sessel am Fenster verwaist war.
Er fraß kaum.
Lag stundenlang dort, wo Mathilde zuletzt gelegen hatte.
Die Decke war noch leicht eingedrückt,
ihr Geruch in der Luft,
in seinem Fell,
in seinem Herzen.
Frau Klein nahm ihn schließlich mit sich,
in ihre kleine Wohnung über dem Blumenladen.
Sie meinte es gut.
Sie kochte Reis mit Leberwurst.
Legte ihm eine Decke ans Fenster.
Redete mit ihm.
„Du bist nicht allein, mein Junge.“
Aber Basil blieb nicht.
Drei Tage später war er verschwunden.
Er hatte gewartet,
bis sie den Laden öffnete.
Dann war er durch die Hintertür geschlüpft.
Lautlos.
Entschlossen.
Die Nachbarn fanden ihn später
wieder auf seinem alten Platz –
unter der Kastanie,
gegenüber dem dritten Fenster links,
im dritten Stock.
Er lag still.
Wie früher.
Als würde er warten.
Und das tat er.
Tag für Tag.
Bei Sonne.
Bei Regen.
Bei Schnee.
Die Menschen begannen, ihn zu bemerken.
Kinder zeigten auf ihn.
Alte Männer nickten ihm zu.
Eine junge Frau stellte Wasser hin.
Aber Basil sah nur nach oben.
Zum Fenster.
Das nie wieder geöffnet wurde.
Er schlief dort.
Wachte dort.
Lebte dort.
Nicht in einem Haus.
Aber in einer Erinnerung.
Er war kein Streuner mehr.
Er war ein Wächter.
Ein Teil der Straße.
Ein Teil von Mathilde.
Und alle, die ihn sahen,
spürten es:
Hier wartete jemand – aus Liebe.
Teil 8: Die Jahre vergehen, der Blick bleibt
Zwei Winter kamen.
Drei Sommer gingen.
Und Basil blieb.
Jeden Morgen lag er unter der Kastanie.
Immer auf derselben Stelle.
Der Rücken leicht gekrümmt,
die Augen auf das dritte Fenster gerichtet.
Er wurde grau –
noch grauer als zuvor.
Sein Gang wurde schleppender,
sein Schlaf tiefer.
Aber sein Platz blieb derselbe.
Die Menschen im Viertel hatten sich an ihn gewöhnt.
Kinder nannten ihn „der Fensterschatten“.
Ein Postbote brachte ihm manchmal ein Stück Käse.
Ein Schüler legte ihm einen Schal um,
als der Frost kam.
Keiner wusste genau, wem er gehörte.
Aber jeder wusste, wohin er gehörte.
Ein älterer Herr erzählte:
„Er hat mal bei einer Frau gewohnt –
oben, im dritten Stock.
Sie ist gestorben.
Und er ist geblieben.“
Und so wurde Basil mehr als nur ein Hund.
Er wurde ein stilles Denkmal.
Ein Zeichen.
Für Treue.
Für Erinnerung.
Für etwas, das blieb,
auch wenn alles andere ging.
Manche Menschen sprachen mit ihm.
Leise.
Beichten, Gebete, kleine Geständnisse.
Als könnte dieser alte Hund
Vertrauen hüten,
wie andere ihren Garten.
Eines Tages setzte sich ein kleines Mädchen neben ihn.
Sie hatte rote Zöpfe,
ein Notizbuch im Arm,
und ein halbes Käsebrot in der Hand.
„Ich heiße Clara“, sagte sie.
„Und du bist traurig, nicht wahr?“
Basil hob langsam den Kopf.
Sah sie an.
Nicht lange.
Aber lange genug.
Clara kam ab dann jeden Nachmittag.
Setzte sich neben ihn.
Redete.
Zeichnete.
Manchmal schwieg sie einfach.
Und Basil?
Er blieb.
So verging ein weiteres Jahr.
Ein leises Jahr.
Ein zartes.
Und obwohl seine Schritte schwerer wurden,
sein Blick trüber,
sein Fell stumpfer –
blieb seine Nähe spürbar.
Die Straße gehörte ihm.
Und das Fenster auch.
Selbst wenn es längst nicht mehr geöffnet wurde.
Teil 9: Das Fenster öffnet sich wieder
Es war ein windiger Frühlingstag,
als Clara ihr Notizbuch öffnete
und zum ersten Mal aufschrieb,
was sie längst in sich trug.
„Der Hund unter dem Fenster“,
stand auf der ersten Seite.
Und darunter:
„Für Mathilde – die Frau, die er nie vergaß.“
Sie hatte inzwischen alles gehört,
was die Nachbarn erzählen konnten:
Von der alten Dame mit dem grauen Dutt.
Vom Hund, der blieb.
Vom Fenster, das dunkel blieb –
und trotzdem leuchtete.
Jeden Nachmittag saß sie auf der Bank gegenüber.
Basil lag an ihrer Seite,
sein Kopf auf ihrem Rucksack,
sein Atem flach,
aber friedlich.
Clara sprach leise mit ihm,
wie mit einem alten Freund.
Sie las ihm ihre Aufzeichnungen vor,
zeichnete ihn mit Bleistiftstrichen,
die zu zittern begannen,
als sie sah,
dass sein Gang langsamer wurde.
Eines Tages fragte sie ihre Mutter:
„Kann man ein Herz brechen,
wenn jemand nicht mehr da ist –
aber nie wirklich gegangen ist?“
Die Mutter schwieg lange.
Dann sagte sie:
„Ja, Schatz. Und manchmal heilt es,
wenn man es weitererzählt.“
Also schrieb Clara weiter.
Seite um Seite.
Nicht nur über Basil –
sondern über Treue.
Über Zeit.
Über das Warten.
Und über Liebe,
die keine Worte braucht.
Eines Nachmittags,
als ein Sonnenstrahl durch die Wolken brach,
nahm Clara Basil an die Leine
und ging mit ihm den Weg zur Kastanie.
Er blieb stehen.
Schaute zum Fenster.
Und Clara flüsterte:
„Siehst du, Basil? Es ist offen.“
Natürlich war es das nicht.
Aber in ihrer Vorstellung –
und vielleicht auch in seiner –
stand es weit offen.
So wie früher.
Für einen Moment schien es,
als würde er den Kopf heben,
die Ohren spitzen,
und lächeln.
Teil 10: Die Geschichte lebt weiter
Es war ein Sonntagmorgen,
als Basil nicht mehr kam.
Clara wartete.
Sie hatte das Käsebrot wie immer dabei,
und ihr Notizbuch lag aufgeschlagen in ihrem Schoß.
Die Kastanie rauschte leise.
Ein paar Kinder lachten in der Ferne.
Aber der Platz unter dem Fenster blieb leer.
Sie wartete bis zum Sonnenuntergang.
Dann stand sie auf
und lief den Weg,
den Basil sonst gegangen war.
Am Ende des kleinen Weges,
hinter dem alten Gemüseladen,
fand sie ihn.
Er lag zusammengerollt unter einem Holzbogen,
ein letzter warmer Ort.
Der Schal, den ein Kind ihm vor zwei Wintern geschenkt hatte,
lag noch locker um seinen Hals.
Seine Augen waren geschlossen.
Seine Pfoten ruhig.
Als hätte er einfach beschlossen,
dass es nun gut sei.
Clara kniete sich zu ihm,
legte eine Hand auf seinen Rücken.
Er war kalt.
Aber friedlich.
Keine Angst.
Kein Schmerz.
Nur Stille.
Später am Abend,
mit Hilfe der Nachbarn,
wurde ein kleiner Platz unter der Kastanie vorbereitet.
Ein schlichtes Holzkreuz,
ein Häufchen Erde,
und Claras Notizbuch.
Sie riss eine Seite heraus
und legte sie in einer kleinen, wetterfesten Hülle dazu.
Darauf stand:
„Für Mathilde – und für ihren Hund,
der nie vergaß,
nie fortlief,
und jeden Tag aufs Neue liebte.“
In den Wochen danach blieben Menschen kurz stehen.
Einige streichelten das Holzkreuz,
andere flüsterten:
„Er war besonders.“
Clara zeichnete das Fenster.
Und darunter:
Basil.
Wartend.
Ewig wartend.
Sie hängte das Bild in die Bibliothek der Schule.
Und jedes Jahr im Winter
erzählte sie die Geschichte von Basil.
Nicht als Märchen.
Sondern als das, was es war:
Ein gelebtes Versprechen.
Und wenn man heute durch die Luisenstraße in Görlitz geht,
blicken manche Menschen hoch
zum dritten Fenster links im dritten Stock.
Und wenn sie dann nach unten schauen –
sehen sie ihn vielleicht,
wenn auch nur für einen Moment:
Einen grauen Hund.
Mit ruhigen Augen.
Und einem Herz,
das niemals aufhörte zu warten.