Das Fenster zur Straße | Sie saß jeden Tag am Fenster – und dann kam der Hund, der nie bellte

Teil 4: Das, was bleibt

Emma stand unter dem Ahornbaum, die Pfoten leicht versetzt, den Kopf erhoben.
Ihr Atem war sichtbar, fein wie silberner Rauch.

Der Dackel saß daneben. Er bewegte sich nicht. Nur seine Ohren zuckten.

Es war kein Ort, an dem etwas geschah. Keine Menschen. Kein Lärm. Nur das leise Knistern der Kälte im Laub.

Und doch hatte dieser Moment ein Gewicht.

Martha stand in der Ferne, nahe der Gartentür. Die Hände um eine Tasse gelegt, leer, aber warm vom Rest der Erinnerung.

Sie beobachtete Emma, wie man jemanden beobachtet, der ein letztes Kapitel aufschlägt.

Denn obwohl nichts gesagt wurde, wusste jeder dort – die alte Hündin, der wartende Dackel, der schweigende Ahorn – dass dies ein Anfang war. Oder ein Ende. Vielleicht beides.


Emma kehrte langsam zurück. Ihre Schritte waren schwer, aber nicht gequält.
In ihnen lag eine Art Würde, die sich nicht kaufen, nicht zwingen lässt.

Der Dackel begleitete sie bis zur Tür. Dann blieb er draußen sitzen, als wolle er sagen: „Bis hierhin – der Rest gehört dir.“

Martha öffnete die Tür weit. Kein Wort. Nur ein Blick.

Emma trat ein. Blieb kurz im Flur stehen, als müsse sie den Geruch des Abends einprägen. Dann legte sie sich auf die alte Wolldecke.

Sie schlief nicht. Aber sie ruhte.


In der Nacht träumte Martha von einem Bach. Einem schmalen, klaren Wasserlauf. Auf der anderen Seite: Emma, jünger, lebendiger, mit dem roten Halstuch flatternd im Wind.

Als Martha aufwachte, lag Emma noch immer am Fenster.

Draußen war die Welt grau.
Ein kalter, unsichtbarer Regen fiel – mehr Nebel als Tropfen.

Martha trat ans Fenster. Sie blickte hinab – und fror.

Der Dackel war fort. Und an seiner Stelle lag ein Gegenstand auf dem Gehweg.

Ein kleiner, geflochtener Korb.


Es war kein gewöhnlicher Korb.
Die Henkel aus gewundenem Weidenholz. Die Innenseite mit einer alten Decke ausgekleidet – rot, ausgefranst, aber sauber.

Und darin: ein zusammengerollter Brief.

Martha nahm ihn vorsichtig heraus. Das Papier war dünn, leicht gewellt von der Feuchtigkeit.

Sie setzte sich an den Küchentisch, faltete ihn auf.

Die Schrift war ungleichmäßig, aber lesbar:

„Für Emma – von denen, die draußen sind.“

„Wir wissen, dass ihr Zeit nicht mehr lang ist. Aber vielleicht reicht es für das Eine. Der Korb ist ihr Platz, wenn sie das Haus verlassen will. Eine Geschichte auf Rädern. Damit sie noch einmal Teil der Welt sein kann. Auch wenn sie nicht mehr laufen will.“

„Wir helfen. Auf unsere Weise.“

– Die Katze, der Papagei und ein Dackel, der keine Leine braucht.

Martha las die Zeilen zweimal. Dann ein drittes Mal.

Sie schloss die Augen.

Als sie aufstand, hatte sie Tränen auf den Wangen – und ein Ziel im Herzen.


Der Korb war robust, aber leicht. Mit vier alten Kinderwagenrädern, handgeschraubt.

Martha legte ein Kissen hinein. Dann das rot gewaschene Halstuch, den kleinen Kamillensack.

Als sie Emma vorsichtig hineinhob, zitterte der Hund leicht. Doch sie ließ es zu.

Der erste Spaziergang war nur bis zur Straßenecke.
Aber es war genug.

Die Fensterläden öffneten sich. Die Katze sprang über drei Dächer, nur um sich neben Emma auf den Korbrand zu legen.

Der Papagei kreiste zweimal, dann landete er auf dem Griff wie ein Kapitän auf dem Ausguck.

Ein alter Mann, der mit seinem Enkel vorbeirollte, blieb stehen. Er sah Emma. Dann nahm er seine Mütze ab.

„Schön, dass sie wieder draußen ist“, sagte er. Mehr nicht.

Aber Martha hörte darin etwas, das klang wie: Willkommen zurück.


In den folgenden Tagen wurde der Korb zu einem vertrauten Bild.

Manchmal saß Emma nur darin und sah zu.
Manchmal legte sich die Katze dazu.
Und wenn der Papagei erzählte, blieb sogar der Wind kurz stehen.

Einmal brachte der Dackel einen Handschuh. Abgelegt vor dem Rad wie ein Geschenk. Ein anderes Mal fanden sie eine Wollmütze mit einem Knopf daran, der Emmas Namen trug.

Martha fragte nie, woher diese Dinge kamen.
Manche Geschichten sind schöner, wenn man sie nicht zu sehr entblößt.


Dann, eines Nachmittags, kurz vor dem ersten angekündigten Schnee, klopfte es an der Tür.

Nicht laut. Nur ein rhythmisches, bestimmtes Pochen.

Martha öffnete.

Vor ihr stand ein Junge.
Vielleicht zwölf. Dünn, mit großen, ernsten Augen. In der Hand: ein Notizbuch.

„Sind Sie Frau Weigand?“

Martha nickte.

„Ich bin Tarek. Ich schreibe Geschichten. Für Tiere. Ich habe von Emma gehört.“

Er hielt ihr das Notizbuch hin. Auf dem Umschlag: eine gezeichnete Emma mit Halstuch.

„Darf ich sie sehen?“

Martha trat beiseite.

Tarek trat vorsichtig ein, als würde er eine Kapelle betreten. Als er Emma sah, hielt er den Atem an. Dann kniete er sich vor den Korb.

„Hallo, Emma“, flüsterte er. „Ich habe dir was geschrieben.“

Er schlug das Notizbuch auf.
Und begann zu lesen.

Nicht laut. Nicht schnell. Sondern mit der Art Stimme, die sich zwischen Worte legt, als wolle sie den Raum mit etwas füllen, das heilend ist.

Emma bewegte sich nicht. Aber ihre Augen – sie leuchteten.

Und als Tarek geendet hatte, geschah etwas, das selbst Martha nicht für möglich gehalten hätte:

Emma hob den Kopf.
Und legte ihn, zögernd, gegen den Arm des Jungen.


Als Tarek gegangen war, blieb das Notizbuch.

Martha legte es auf die Fensterbank.
Emma sah es an.

Draußen wurde es langsam dunkler.
Im Westen färbte sich der Himmel silbern.

Und dann – ein erster, winziger Flockenwirbel.

Noch kein Schnee. Aber sein Versprechen.

Emma hob leicht den Kopf.
Martha lächelte.

„Noch nicht, mein Mädchen“, flüsterte sie. „Noch sind wir nicht am Ende.“

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