Das Fenster zur Straße | Sie saß jeden Tag am Fenster – und dann kam der Hund, der nie bellte

Teil 5: Wenn Schnee verspricht, zu bleiben

Der erste Schnee fiel in der Nacht.

Nicht viel – nur ein dünner, flüchtiger Schleier, der sich wie ein vergessener Traum über Dächer und Fenster legte. Doch als Martha am Morgen das Rollo hochzog, war die Welt verändert. Gedämpfter. Heller. Und stiller.

Emma schlief. Ihr Atem ging ruhig. Auf dem Nachttisch lag Tareks Notizbuch, offen bei einer Zeichnung, die er am Rand gemacht hatte: ein Hund in einem Korb, flankiert von einer Katze und einem Papagei. Über ihnen tanzten kleine Schneeflocken.

Martha setzte sich auf die Bettkante. Ihre Hände ruhten im Schoß.

„Du wolltest doch noch einmal raus, bevor er richtig fällt“, flüsterte sie. „Jetzt ist er da.“

Emma schlug langsam die Augen auf. Kein Zucken, kein Bellen. Nur ein Blick – wach, klar, als wäre etwas in ihr aufgewacht, das lange geschlafen hatte.


Noch bevor die Kirchenglocken acht Uhr schlugen, stand der Korb vor dem Haus. Martha hatte die Decke frisch ausgeschüttelt, ein Wärmekissen daruntergelegt, Emmas Halstuch neu gebunden.

Der Schnee knirschte leise unter ihren Schuhen. Emma lag im Korb, den Kopf leicht erhoben, die Augen halb geschlossen, aber wachsam.

Die Katze kam zuerst. Sie sprang vom Nachbardach und lief einen Bogen, bevor sie sich an Emmas Seite setzte. Ohne Ton. Ohne Eile.

Dann landete der Papagei. Er hatte ein trockenes Blatt im Schnabel, das aussah wie ein kleiner Brief. Er ließ es in den Korb fallen.

„Heute“, sagte er, „ist ein guter Tag für Geschichten.“

Martha schob den Korb langsam über das Pflaster. Jeder Meter war bedacht. Nicht aus Angst – sondern aus Respekt.

Sie nahm die kleine Straße bergab, vorbei am Café, das inzwischen wieder geöffnet hatte. Ein Mädchen stand am Fenster, sah ihnen nach, presste die Hände an die Scheibe. Als Emma vorbeifuhr, hob das Kind zwei Finger zum Gruß. Emma blinzelte.


An der Ecke wartete schon jemand: Tarek.

Er hatte einen kleinen Rucksack dabei und trug einen dicken, grauen Schal, der ihm mehrmals um den Hals gewickelt war. In der Hand: ein selbstgebasteltes Schild. Darauf stand in Kinderschrift:

EMMAS REISE – HEUTE NUR GERADEAUS

„Ich dachte“, sagte er verlegen, „vielleicht braucht sie ein Ziel.“

Martha lächelte. „Wohin geradeaus?“

„Zum Fluss“, sagte er. „Der Weg ist frei. Ich hab ihn gestern mit dem Schneeschieber freigemacht.“

Martha war gerührt. Aber bevor sie etwas sagen konnte, trat ein weiterer Schatten hinter den Büschen hervor – der Dackel.

Er trottete langsam heran, ein Stück altes Stofftier im Maul. Vielleicht war es ein Bär gewesen. Jetzt war es mehr Erinnerung als Spielzeug. Er legte es behutsam auf den Korbrand.

Dann setzte sich die kleine Karawane in Bewegung: Emma im Korb, Martha schiebend, Tarek voraus mit dem Schild, die Katze schleichend am Rand, der Dackel in sicherem Abstand und der Papagei über ihnen kreisend wie ein fliegender Chronist.


Der Weg zum Fluss war länger, als Martha es erwartet hatte. Aber nie beschwerlich.

Immer wieder hielten Passanten an. Manche grüßten stumm. Andere blieben stehen, legten die Hand auf die Brust oder flüsterten ein Wort.

„Das ist sie“, sagte ein alter Mann zu seiner Frau. „Die Fensterhündin.“

Ein Junge drückte seiner Mutter einen Zweig in die Hand. „Für sie. Damit sie was Grünes sieht.“

Martha nahm alles an. Wortlos. Mit einem Knoten im Hals, der sich nicht lösen ließ.


Am Fluss war der Boden feucht, aber nicht matschig. Der Uferweg war geräumt, und auf der anderen Seite lag eine große, flache Wiese, von Schnee bedeckt wie ein leeres Blatt Papier.

Tarek blieb stehen.

„Hier“, sagte er, „hat mein Vater mir das Fahrradfahren beigebracht.“

Er trat zur Seite. „Heute ist es Emmas Wiese.“

Martha schob den Korb noch ein Stück weiter, dann blieb sie stehen. Der Wind war sanft. Die Luft klar. Und die Sonne – zaghaft, aber spürbar.

Emma hob den Kopf.

Dann – ein Moment, der still war wie ein Versprechen.

Sie stemmte sich aus dem Korb. Zuerst nur mit den Vorderpfoten. Dann langsam, zitternd, mit dem ganzen Körper.

Martha wollte einschreiten, doch Tarek hob instinktiv die Hand. „Lass sie.“

Emma stand. Auf wackligen Beinen. Aber aufrecht.

Sie machte einen Schritt. Dann noch einen. Und dann geschah das, was niemand zu hoffen gewagt hatte:

Sie lief.

Langsam. Ungleich. Aber mit einem Ausdruck im Gesicht, der jedem, der zusah, das Herz weit machte.

Der Dackel lief ihr nach. Die Katze sprang voran. Und der Papagei – der flog tiefer, als er es sonst je tat, fast wie ein Schatten über ihrer Spur.


Emma lief nicht weit. Vielleicht fünfzehn Meter. Dann blieb sie stehen, wandte den Kopf zurück.

Ihre Augen fanden Martha. Und Tarek.

Dann ließ sie sich nieder. In den Schnee. Der Korb, der Weg, die Straße – alles hinter ihr.

Und zum ersten Mal seit langem war Emma dort, wo sie sein wollte: mittendrin.

Nicht mehr Beobachterin.

Sondern Teil des Bildes.


Es war Tarek, der schließlich sprach.

„Ich glaube… sie wollte nur zeigen, dass sie es noch kann.“

Martha nickte.

„Und dass es reicht.“

Sie holte eine Decke, legte sie in den Schnee. Dann setzte sie sich neben Emma.

Der Dackel leckte Emmas Ohr. Die Katze rollte sich eng an ihre Seite.

Und der Papagei sang etwas – kein Lied, kein Ruf. Nur eine Melodie aus Kehlenwind, Erinnerung und Winterlicht.


Als sie zurückkamen, war es später Nachmittag.

Martha trug Emma im Arm. Eingehüllt in die Decke, die noch den Geruch des Schnees trug.

Sie schlief nicht. Aber sie war sehr ruhig.

Zuhause angekommen, legte Martha sie wieder in den Korb. Die Katze sprang aufs Fensterbrett. Der Dackel legte sich vor die Heizung. Der Papagei kratzte sich unter dem Flügel und flüsterte:

„Sie hat getan, was sie tun wollte.“

Martha setzte sich, nahm das Notizbuch, blätterte durch die Seiten – und begann leise zu schreiben.

Über diesen Tag. Über Schnee. Über einen Korb. Über einen Hund, der nicht aufgab.

Und über den Mut, noch einmal loszugehen.

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