Teil 6: Was unter Schnee verborgen liegt
In der Nacht fiel erneut Schnee – dichter diesmal, feinkörniger. Er blieb liegen, auch auf den Fenstersimsen, auf den Ästen, auf dem schiefen Schild des Bäckers, der seit Monaten geschlossen war. Es war ein Schnee, der bleiben wollte.
Martha lag wach. Nicht wegen des Schnees. Sondern wegen des Atems neben ihr.
Emma atmete flach. Unregelmäßig. So, als müsste jede Luftbewegung einen inneren Weg bahnen, der nicht mehr selbstverständlich war.
Martha stand auf, ging barfuß zum Fenster. Sie öffnete es ein Stück. Kalte Luft drang herein, aber sie störte nicht.
Die Katze saß bereits dort. Im Fenster. Den Schwanz um die Pfoten geschlungen. Sie sagte nichts.
„Ich weiß“, flüsterte Martha. „Du willst, dass ich es erkenne.“
Sie wandte sich um. Sah Emma auf der Decke liegen. Wach. Aber still.
Martha griff zum Telefon. Sie drückte eine Nummer, die sie längst auswendig konnte.
Dr. Fichtner kam am Vormittag. In einem dicken Wollmantel, das Stethoskop versteckt unter Schal und Taschenlampe. Ihre Schritte waren ruhig. Nicht eilig. Nicht zögerlich.
Emma hob den Kopf, als sie eintrat. Nur ein wenig. Aber genug.
Die Tierärztin kniete sich wortlos neben sie. Legte die Hand auf den Rücken. Horchte. Fühlte.
Dann drehte sie sich zu Martha. Ihr Blick war sanft. Doch in ihm lag ein Gewicht.
„Es wird nicht mehr lange dauern.“
Martha nickte. „Wie lange noch?“
„Ein, zwei Tage. Vielleicht drei. Es kommt auf sie an.“
Dr. Fichtner schwieg. Dann streichelte sie Emma zwischen den Ohren.
„Es ist kein Kampf mehr. Es ist ein Warten. Auf das Eine, das noch fehlt.“
Martha zog den alten Sessel näher an den Korb.
„Und wenn das Eine nicht mehr kommt?“
Die Tierärztin blickte hinaus, wo Schneeflocken gegen das Fenster tanzten.
„Dann können wir helfen. Wenn Sie möchten. Wenn sie bereit ist. Aber nicht heute. Noch nicht.“
Als Dr. Fichtner gegangen war, setzte sich Martha neben Emma. Sie legte ihre Hand auf das alte Halstuch.
„Ich wünschte, ich wüsste, was dir noch fehlt“, flüsterte sie.
Emma bewegte sich kaum. Doch da war etwas in ihrem Blick. Nicht Schmerz. Nicht Angst. Sondern… ein Suchen.
Am Nachmittag klingelte es an der Tür.
Tarek stand davor. Seine Wangen waren gerötet vom Schnee, und er hielt einen zerknitterten Briefumschlag in der Hand.
„Er lag im Briefkasten“, sagte er. „Mit deinem Namen. Aber ohne Absender.“
Martha nahm ihn entgegen. Der Umschlag war alt. Der Stempel kaum lesbar.
Innen: ein Foto.
Und ein Brief. Handschriftlich.
Sie setzte sich, breitete das Bild auf dem Tisch aus. Darauf: ein junger Mann, lachend, mit einer Welpe auf dem Arm – Emma. Ganz eindeutig.
Martha erstarrte.
Der Brief war an sie gerichtet.
„Falls dieser Brief dich erreicht – danke.“
„Ich weiß nicht, ob du Emma noch hast. Aber damals, als ich zur Reha musste, und du sie bei dir aufgenommen hast – du hast mein Herz gerettet.“
„Ich kam nicht zurück. Ich konnte nicht. Mein Kopf… die Dinge, die ich gesehen habe… Ich wollte Emma nicht zumuten, dass ich jemand geworden bin, den sie nicht mehr erkennt.“
„Aber jetzt, da ich höre, sie lebt noch… wollte ich, dass du weißt: Der erste Schnee, den wir gemeinsam erlebt haben, war in einem Garten in Thüringen. Sie hat ihn gefressen, als wär’s Sahne. Und ich habe in diesem Moment geglaubt, dass alles wieder gut wird.“
„Vielleicht hat sie diesen Ort nicht vergessen. Vielleicht fehlt ihr genau das.“
– M.
Martha faltete den Brief langsam zusammen. Ihre Finger zitterten.
„Thüringen…“, sagte sie leise.
Tarek setzte sich neben sie. „Wollen wir dorthin fahren?“
Martha blickte zu Emma.
Und Emma – die den ganzen Tag kaum mehr als einen Blick gehabt hatte – hob den Kopf.
Nur ein kleines Stück. Aber mit einer Klarheit, die man nicht übersehen konnte.
Am nächsten Morgen war alles vorbereitet.
Ein Nachbar hatte sein altes Wohnmobil geliehen. Martha legte den Korb hinein, fütterte ihn mit Decken, legte die Zeichnung aus dem Notizbuch daneben, und ein kleines Säckchen mit Schnee vom Vortag.
Tarek saß vorne. Die Katze reiste in einer offenen Tasche. Der Dackel sprang freiwillig auf die Rückbank.
Und Emma – sie lag im Korb, die Augen offen, das Halstuch glattgezogen, den Blick auf die beschlagene Scheibe gerichtet.
Die Fahrt dauerte vier Stunden. Sie sprachen kaum. Es gab nichts zu sagen.
Nur als sie die ersten Hügel hinter Weimar erreichten, setzte sich der Papagei auf den Rückspiegel.
Er war einfach da.
Niemand hatte ihn rufen müssen.
Der Garten lag hinter einem alten Haus. Eine weiß gestrichene Bank, halb verschneit. Ein Birnbaum. Und Spuren von Tierspuren im Schnee – alt vielleicht, aber deutlich.
Martha hob Emma vorsichtig aus dem Korb, trug sie zur Bank.
Sie setzte sich, legte Emma auf den Schoß.
Der Wind war still. Der Himmel grau.
Tarek trat einige Schritte zurück. Die Katze sprang auf den Ast über ihnen. Der Papagei landete auf dem Birnbaum.
Und der Dackel – legte sich in den Schnee.
Martha strich Emma über das Fell.
„Ist das der Ort, mein Mädchen?“
Emma atmete tief. Dann, ganz langsam, schloss sie die Augen.
Kein Zittern. Kein Laut.
Nur Frieden.
Martha spürte es. Sie sagte nichts. Doch Tränen liefen ihr über die Wangen.
Und als sie aufsah, begann es erneut zu schneien.
Weich. Lautlos.
Ein Schnee, der kam, um zu bleiben.