Das Fenster zur Straße | Sie saß jeden Tag am Fenster – und dann kam der Hund, der nie bellte

Teil 7: Und wenn sie ruht, beginnt etwas Neues

Der Schnee fiel in geraden, leisen Bahnen. Kein Wind, kein Schwanken – als hätte die Welt beschlossen, für diesen einen Moment still zu stehen.

Emma lag auf Marthas Schoß. Ihr Körper war warm, doch schwer. Die Atmung flach, fast unmerklich.

Martha streichelte ihr das Fell am Nacken, immer in derselben Bewegung, sacht, wieder und wieder.

Neben der Bank saß der Dackel, halb eingesunken im Schnee. Seine Augen waren offen, aber er blinzelte nicht. Die Katze saß auf dem Birnbaum über ihnen und hatte ihren Schweif ruhig um den Ast gewunden. Der Papagei hockte auf einem Zweig, leicht aufgeplustert, den Kopf schräg.

Niemand sprach.

Und doch war alles voller Sprache.


Eine Stunde verging. Vielleicht zwei. Martha wusste es nicht. Die Zeit war weich geworden, aufgelöst zwischen Atem und Schneefall.

Tarek trat leise näher. In den Händen hielt er einen Thermobecher.

„Kamillentee“, sagte er. „Mit Honig.“

Martha nahm ihn dankend entgegen. Ihre Finger waren kalt, aber das Zittern kam von innen.

„Ich glaube, sie wartet auf etwas“, flüsterte sie.

Tarek nickte. „Oder auf jemanden.“

Martha sah ihn an.

„Du meinst… ihn? Den Mann aus dem Brief?“

„Vielleicht. Oder nur auf den Moment, in dem sie weiß, dass du sie gehen lässt.“


Die Dämmerung setzte früh ein. Im Osten wurde der Himmel bleich, dann bläulich-grau. Erste Lichter flackerten auf – vom Dorf unten, vom Fenster des Hauses, das leer stand, aber nicht verlassen wirkte.

Martha spürte Emmas Körper schwerer werden. Nicht leblos. Nur müde.

Sie beugte sich vor, legte ihre Stirn an die der Hündin.

„Du hast mich durch mehr Jahre getragen, als ich zählen kann“, sagte sie. „Aber du musst nichts mehr halten. Kein Versprechen. Kein Schmerz.“

Ein kurzer Ruck ging durch Emmas Brust. Dann legte sie den Kopf seitlich in Marthas Armbeuge.

Martha wusste: Es war nicht mehr weit.


Plötzlich flatterte der Papagei auf. Nicht aufgeschreckt – eher geführt.

Er drehte eine kleine Runde über den Birnbaum, krächzte einmal, dann ließ er etwas fallen – einen kleinen, zerrupften Fetzen Stoff.

Martha hob ihn auf.

Ein Stück von Emmas erstem Spielzeug. Vom roten Gummikrokodil.

Emma öffnete die Augen. Nur für einen Moment.

Sie sah den Stofffetzen, dann Martha.

Und in diesem Blick lag etwas, das nicht mehr gefragt hat, ob noch etwas kommt.

Sondern nur sagte: Es war genug.


Martha legte Emma vorsichtig zurück in den Korb. Der Dackel folgte mit gesenktem Kopf. Die Katze sprang herunter, lief einmal um den Korb herum, dann legte sie sich dicht an die Seite.

Tarek öffnete langsam die Tür des Wohnmobils.

Drinnen war es warm.

Still.

Und voller Abschied.


Die Fahrt zurück war stiller als die Hinfahrt. Martha saß hinten, neben dem Korb. Ihre Hand ruhte auf Emmas Seite.

Die Katze schlief zusammengerollt. Der Papagei döste auf der Rückenlehne eines Sitzes. Der Dackel sah aus dem Fenster.

Und Emma – sie atmete. Noch.

Doch langsamer.

Martha sprach leise. Manchmal erzählte sie von früher – vom alten Garten, vom ersten Ausflug ans Meer, von dem Tag, als Emma als junger Hund das Sofa zerstört und anschließend ihren Napf umgeworfen hatte.

Und dann schwieg sie wieder.

Weil Worte nicht alles heilen können. Aber Stille manchmal trösten kann.


Als sie spät am Abend wieder in Bad Windsheim ankamen, lag das Dorf unter einer dichten Schneedecke.

Es war das erste Mal seit Jahren, dass alles so weiß war.

Martha trug den Korb ins Wohnzimmer. Das Fenster war beschlagen, aber als sie es ein Stück öffnete, roch sie es sofort – dieser Duft nach klirrender Luft, Kaminrauch und erster Winternacht.

Sie legte Emma behutsam auf die Decke vor dem Fenster.

Dort, wo alles begonnen hatte.


In der Nacht wurde Emma unruhig. Nicht ängstlich. Eher: wach.

Sie hob den Kopf. Ihre Augen suchten.

Martha wachte auf.

„Was ist es, mein Mädchen?“, flüsterte sie.

Emma sah zur Tür.

Ein leises Kratzen.

Tarek stand im Flur. In der Hand: ein kleines, gerahmtes Bild. Das Foto aus dem Brief – Emma als Welpe, im Arm des jungen Mannes.

Er stellte es auf die Fensterbank. Direkt neben die Teetasse von vor drei Tagen, die noch den Abdruck von Marthas Daumen trug.

Emma blinzelte. Und sah.

Und in diesem einen Blick lag alles, was ein Leben sagt, wenn es nichts mehr sagen muss.


Martha wusste es.

Noch bevor der Morgen kam.

Noch bevor das erste Licht durch den Schnee schimmerte.

Emma atmete aus. Tief.

Dann wurde sie ganz still.

Nicht hart. Nicht schmerzvoll.

Einfach: still.


Martha saß lange neben ihr.

Stunden vielleicht.

Der Papagei saß auf der Vorhangstange. Die Katze schnurrte leise. Der Dackel hatte sich mit dem Kopf auf Emmas Rücken gelegt.

Und draußen schneite es.

So, wie Emma es mochte.

Langsam.

Ohne zu fragen, ob man bereit war.

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