Teil 8: Wenn Spuren nicht verschwinden
Am Morgen danach war alles weiß.
Nicht das kalte, harte Weiß, das man aus Städten kennt, sondern ein sanftes, deckendes, beinahe schützendes Weiß. Der Schnee hatte sich wie eine Decke über die Straße gelegt, über die Dächer, die alten Bänke, selbst das rostige Fahrrad vor dem Café war verschwunden.
Martha stand am Fenster. In der Hand eine Tasse Tee, der längst kalt war. Ihre Augen waren gerötet, aber sie hatte nicht mehr geweint. Die Tränen waren gekommen, spät in der Nacht, still, wie Tropfen durch einen undichten Wasserhahn.
Emma lag nicht mehr auf der Decke.
Sie war im Korb. Eingewickelt in das rote Halstuch und eine Wolldecke, die noch nach Kamille duftete. Ihre Augen geschlossen. Der Körper friedlich.
Martha hatte es nicht übers Herz gebracht, sie sofort wegzugeben. Nicht gleich. Nicht nach all den Jahren.
Sie hatte beschlossen, dass Emma zu Hause bleiben durfte – noch für eine letzte Nacht.
Jetzt war der Morgen da. Und mit ihm: Stille.
Die Katze saß auf dem Fenstersims, die Pfoten eng aneinander, den Blick nach draußen gerichtet. Sie hatte sich die ganze Nacht nicht bewegt. Nicht einmal gezuckt.
Der Dackel lag auf dem Boden, direkt neben dem Korb. Er hatte seine Schnauze zwischen die Pfoten gelegt und stieß ab und zu leise Atemzüge aus, die mehr klangen wie Seufzer.
Und der Papagei? Der war verschwunden. Seit dem frühen Morgen. Kein Krächzen, kein Schatten auf dem Fenster – nur Leere.
Martha vermisste ihn.
Nicht laut. Nicht panisch. Sondern so, wie man eine Stimme vermisst, wenn man gerade nichts mehr zu sagen hat.
Gegen neun Uhr klingelte es.
Martha öffnete nicht sofort. Erst nach dem zweiten Läuten.
Draußen stand Tarek. In beiden Händen hielt er einen Gegenstand, sorgfältig in Papier gewickelt.
„Ich hab was gemacht“, sagte er.
Seine Stimme war leiser als sonst.
Martha trat zur Seite. Er trat ein, zog die Schuhe aus, ohne gefragt zu werden, ging direkt zum Korb.
Dann kniete er sich davor und legte das eingewickelte Bündel neben Emma.
Er öffnete es langsam.
Darin: Ein Holzschild.
Klein, handgeschnitzt, die Kanten liebevoll gerundet. In das Holz eingebrannt:
EMMA
die mit dem Blick zur Straße
Darunter ein kleines Herz. Und eine winzige Gravur, fast zu klein zum Lesen:
„Manche Türen bleiben offen – auch wenn niemand mehr dahinter liegt.“
Martha schluckte.
Sie kniete sich neben ihn. Legte ihre Hand auf seinen Arm.
„Das ist wunderschön.“
Tarek sah sie nicht an. Sein Blick war bei Emma.
„Ich hab es aus dem Holz von dem alten Birnbaum gemacht. In Thüringen. Ein Nachbar hat mir was mitgegeben.“
Martha schloss kurz die Augen. Der Gedanke, dass ein Stück dieses Gartens mit Emma zurückgekommen war – er war mehr als Trost.
Er war Antwort.
Am späten Vormittag kamen die Nachbarn.
Nicht viele. Drei, vier. Frau Herzler vom Haus gegenüber, Herr Kranz, der früher Briefträger war, und zwei Kinder, die Emma immer heimlich Kekse durchs Gartentor gesteckt hatten.
Jeder hatte etwas mitgebracht.
Ein getrockneter Strauß Lavendel.
Ein Bild, gemalt mit Wachsstiften – Emma in ihrem Korb, mit Flügeln.
Ein alter, zerknitterter Briefumschlag, auf dem stand: Danke für den Blick.
Martha richtete in der Mitte des Wohnzimmers einen Tisch her. Legte Emma in ihren Korb darauf. Schmückte ihn mit Tuch, mit Licht, mit Stille.
Es war keine Trauerfeier.
Es war ein Abschied, der sich wie eine sanfte Hand auf die Schulter legte.
Am Nachmittag kam Dr. Fichtner.
Sie trat ein, sah Emma, dann Martha. Und sagte kein Wort.
Nur eine Bewegung: ein kurzes Neigen des Kopfes. Ein stilles „Ich verstehe.“
Sie blieb nicht lange. Doch bevor sie ging, trat sie zu Martha und flüsterte:
„Sie hat etwas hinterlassen, das man nicht beerdigen kann.“
Martha nickte.
Und in diesem Satz lag mehr als Trost.
Am Abend ging Martha in den Garten.
Die Nachbarn waren gegangen. Die Katze lag auf dem Heizkörper. Der Dackel schlief.
Nur der Schnee fiel noch – unaufhörlich.
In der Mitte des Gartens hatte Tarek einen kleinen Hügel vorbereitet.
Nicht groß. Aber würdevoll.
Martha trug Emma in ihrem Korb dorthin.
Und als sie sie hinabsenkte, geschah es:
Ein Schatten glitt durch die Luft.
Der Papagei.
Er landete auf dem Spaten, sah kurz hinab. Dann ließ er etwas fallen:
Einen einzelnen, roten Knopf.
Martha hob ihn auf. Er war alt, abgewetzt, aber sie erkannte ihn sofort.
Er gehörte zu Emmas erstem Halsband.
Der Papagei hatte ihn aufbewahrt. All die Jahre.
Er flog nicht wieder weg.
Er blieb.
Und krächzte leise.
Nicht traurig. Nicht schrill. Sondern wie ein letzter Gruß.
Spät in der Nacht saß Martha wieder am Fenster.
Die Teetasse war leer. Auf der Fensterbank stand das Holzschild.
Draußen war alles weiß.
Und doch: Auf dem Pflaster vor dem Haus – drei Spuren.
Ein kleiner Vogelfuß. Eine Katzenpfote. Und daneben: zwei Dackelpfoten im Schnee.
Nicht verwischt. Nicht verweht.
Nur wartend.
Als würde jemand sagen:
Wir sind noch da. Und das Leben auch.