Das Fenster zur Straße | Sie saß jeden Tag am Fenster – und dann kam der Hund, der nie bellte

Teil 9: Der Platz am Fenster bleibt nicht leer

Die Tage nach Emmas Abschied vergingen langsam.

Nicht in Trauer – sondern in einer seltsamen Stille, wie frisch gefallener Schnee, den noch niemand betreten hat.

Martha stand weiterhin jeden Morgen auf, bereitete ihren Tee zu, stellte zwei Tassen hin, obwohl sie nur eine trank. Gewohnheit ist nicht einfach Gewohnheit – manchmal ist sie Erinnerung in Bewegung.

Der Korb stand nicht mehr da. Doch auf der Decke vor dem Fenster hatte Martha das geschnitzte Holzschild aufgestellt, daneben Emmas altes Halstuch, sorgfältig zusammengelegt.

Und obwohl niemand dort lag, blieb die Stelle nicht leer.

Die Katze kam jeden Nachmittag, setzte sich genau auf den Platz, wo Emmas Brust einmal gehoben hatte. Sie blickte nicht hinaus – sie blickte hinein. In das Haus. In Martha.

Der Dackel kam seltener, aber immer mit etwas im Maul: einen Kiefernzapfen, ein Blatt, einen alten Schuh von irgendwoher. Er legte es auf die Decke, saß kurz daneben, dann verschwand er wieder.

Der Papagei blieb.

Er saß nun öfter auf dem Fensterrahmen, erzählte leise Dinge – von der Bäckersfrau, die wieder zu lachen begann, vom kleinen Fuchs, der hinter der Apotheke gesehen wurde, vom ersten Vogel, der sich im Schnee verirrte.

Und Martha hörte zu.
Nicht, weil sie musste. Sondern weil es ihr Herz wärmer machte.


Drei Tage nach der Beerdigung lag ein Brief im Briefkasten.

Kein Absender. Nur ihr Name, mit blauer Tinte geschrieben.

Sie öffnete ihn auf der Fensterbank.

Innen: eine Karte. Ein Aquarell. Darauf: Emma im Korb, wie sie in den Schnee blickte.

Und darunter, in kleiner, krakeliger Handschrift:

„Ich habe sie nur einmal gesehen. Aber ich vergesse sie nicht.“
M.

Kein voller Name. Keine Adresse. Nur dieses kurze „M.“

Martha faltete die Karte, legte sie zum Halstuch.

Und lächelte.

Weil sie wusste, dass es manchmal reicht, gesehen worden zu sein. Auch nur einmal.


Am Samstagmorgen, als der Frost sich besonders hartnäckig auf dem Küchenfenster hielt, stand Tarek wieder vor der Tür.

Er hatte seine Mütze schief aufgesetzt, hielt eine Thermoskanne und eine große, graue Leinentasche in der Hand.

„Frühstück für alle“, sagte er. „Auch für die, die keine Brötchen essen.“

Er trat ein, zog sich die Stiefel aus, ging direkt zum Fenster und legte die Leinentasche daneben.

Sie bewegte sich.

Martha trat näher.

„Was hast du da…?“

Tarek öffnete sie vorsichtig.

Drin: ein kleiner, zitternder Hund. Zottelig, mit großen Ohren und unsicherem Blick.

„Ich hab ihn gestern im Schuppen hinter der Schule gefunden. Er war ganz allein. Kein Chip. Keine Marke. Kein Suchen-Aushang. Nur das.“

Er zog ein kleines Stoffstück aus der Tasche. Ein Kindersocke.

„Ich glaube, er hat da geschlafen. Seit Tagen.“

Martha beugte sich hinab. Der Hund sah sie an, dann schob er sich ein Stück in ihre Richtung.

Nicht fordernd. Aber bereit.

„Ich wollte ihn nicht einfach ins Tierheim bringen“, sagte Tarek. „Nicht nach all dem hier.“

Martha schwieg. Dann hob sie den Hund aus der Tasche. Er war leichter als erwartet. Und wärmer.

Sie setzte sich, legte ihn vorsichtig auf die Decke vor dem Fenster.

Er blieb liegen. Dann drehte er den Kopf – und sah hinaus.

Lange.

Still.

Dann legte er die Pfote auf das Holzschild, ganz leicht.


Der Dackel kam eine Stunde später.

Er sah den neuen Hund, schnupperte kurz, legte sich dann daneben.

Als die Katze wenig später ebenfalls erschien, machte sie keinen Bogen. Sie sprang auf die Rückenlehne, betrachtete die Szene – und blieb.

Der Papagei kommentierte nicht. Aber er begann zu summen.

Eine Tonfolge, die Martha noch nie gehört hatte.

Sanft. Verspielt. Hoffnungsvoll.


Der kleine Hund blieb.

Tage vergingen. Dann Wochen.

Martha nannte ihn „Stippe“.
Weil er beim Gehen auf einem Hinterbein leicht einknickte, als würde er über einen unsichtbaren Punkt stolpern.

Er war vorsichtig. Beobachtend. Aber nicht ängstlich.

Und immer, wenn er etwas Neues sah – ein Vogel, einen fallenden Ast, Tareks fliegende Mütze – blickte er zuerst zu Martha.

Als wollte er fragen: Ist das in Ordnung?

Und Martha antwortete – mit einem Nicken, einem Lächeln, einer stillen Hand auf dem Fell.


An einem Morgen – es war Mitte Februar, und der Schnee begann zu schmelzen – saß Stippe am Fenster, als wäre er nie woanders gewesen.

Tarek kam vorbei, wie jeden Samstag.

Er trug diesmal kein Schild. Kein Geschenk.

Nur sich.

Sie tranken Tee. Redeten nicht viel.

Dann sagte er:

„Darf ich den Platz hier… ab und zu… behalten? Ich meine, nicht für mich. Für Geschichten. Für das, was bleibt.“

Martha nickte.

„Es ist nicht mehr Emmas Platz“, sagte sie. „Aber es bleibt ihr Fenster.“

Und sie wusste:

Jeder Blick hinaus war jetzt auch ein Blick hinein – in das, was war, und das, was wurde.

Und manchmal, wenn der Wind aufkam, roch sie es ganz deutlich:

Kamille. Schnee. Und die leise Spur eines Hundes, der geblieben war, um zu erzählen.

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