Das Fenster zur Straße | Sie saß jeden Tag am Fenster – und dann kam der Hund, der nie bellte

Teil 10: Der Frühling, der bleibt

Der Schnee war fort.

Er war nicht auf einmal verschwunden, sondern nach und nach geschmolzen – in den Nächten, die weniger scharf atmeten, in den Tagen, die nach Erde rochen, nach nassem Holz, nach Licht, das wagt.

Und mit ihm schwand auch die Stille.

Kinderstimmen kehrten zurück auf die Straße. Fahrräder ratterten wieder über das Kopfsteinpflaster. Das Café gegenüber öffnete seine Fenster einen Spalt.

Aber der Blick aus Marthas Fenster blieb derselbe.

Weil Emma dort saß.
Nicht mit Körper – aber mit Spur.


Stippe lag an ihrem Platz. Inzwischen etwas größer, noch immer zottelig, aber kräftiger.

Er hatte gelernt, wann die Müllabfuhr kam, wann der Postbote pfiff, wann der Dackel aufkreuzte.

Aber was er nie lernte: bellen.

Nicht aus Angst. Es war, als würde er die Welt lieber hören, als sie zu unterbrechen.

Martha hatte sich daran gewöhnt.

Sie sprach manchmal mit ihm, manchmal nicht.

Oft saßen sie nur zusammen.

Und schwiegen in dieselbe Richtung.


Die Katze blieb.

Sie schlief inzwischen manchmal direkt auf dem Fenstersims. An warmen Tagen sonnte sie sich halb draußen, halb drinnen.

Der Dackel war wie ein alter Freund geworden – einer, der keine Erklärung braucht.

Er kam, blieb, ging. Kam wieder.

Der Papagei?

Er wurde seltener.

Manchmal sah Martha ihn nur aus der Ferne, als Silhouette auf dem Turm der Kirche.

Einmal hinterließ er eine Pflaumenfeder auf der Fensterbank.

Eine andere Welt. Ein anderes Kapitel.


Eines Morgens, kurz vor Ostern, erhielt Martha einen Anruf.

Eine Frauenstimme. Zögerlich, jung.

„Guten Tag… ich hoffe, ich störe nicht. Mein Vater hat mir von Ihnen erzählt. Vor ein paar Wochen ist er… also, er ist verstorben.“

Martha hielt den Atem an.

„Er hieß Matthias. Und er hat immer von einem Hund erzählt. Emma.“

Martha schloss die Augen.

„Er hat nie gesagt, wo sie ist. Nur, dass sie auf ihn gewartet hat. Und dass er nicht mutig genug war, sie noch einmal zu sehen.“

Die Stimme schwankte.

„In seinem Nachlass fanden wir ein Bündel Briefe. Nur einer war geöffnet. Der Rest an Sie gerichtet. Ohne Adresse. Nur ‚Martha, Bad Windsheim‘.“

Pause.

„Ich möchte sie Ihnen bringen. Wenn Sie erlauben.“

Martha sagte nur: „Bitte.“


Drei Tage später stand die junge Frau auf der Schwelle.

Sie hieß Lena. Hatte Emmas Ohren, wie Martha fand. Offen, lauschend.

Sie trug einen Beutel mit alten, vergilbten Briefen. Alle mit Emmas Namen. Manche sogar mit einem Abdruck einer Pfote unten im Siegel.

Sie setzte sich mit Martha ans Fenster.

Stippe legte sich an ihre Füße.

Lena erzählte.

Von einem Vater, der im Krieg mehr verloren hatte, als er je erzählte.

Von einem Mann, der nie einen Hund ersetzen konnte, weil keiner je Emma war.

Von einem Menschen, der gezeichnet war – aber mit Worten heilte, die er nie abschickte.

Martha nahm die Briefe. Sie öffnete keinen.

Sie legte sie in die Kiste, zu Emmas Spielzeug, zu ihrem Halstuch.

„Später“, sagte sie.

„Nicht, weil ich nicht lesen will. Sondern weil ich noch zuhören möchte.“

Lena verstand.

Und bevor sie ging, kniete sie sich zu Stippe hinunter.

„Du bist nicht sie“, flüsterte sie. „Aber du darfst bleiben.“


Im Mai blühten die ersten Tulpen im Garten.

Tarek hatte sie gesetzt.

Er kam seltener nun, was gut war. Er hatte neue Dinge zu tun – Geschichten zu erzählen für andere Fenster.

Aber an einem Sonntag, kurz vor Pfingsten, brachte er ein gerahmtes Bild.

Es zeigte das Fenster von draußen.

Drinnen: die Katze, der Dackel, Stippe.

Und daneben – leer.

Oder fast leer.

Denn auf der Decke: ein schwacher Lichtschein in Form einer liegenden Hündin.

Tarek sagte nur: „Manchmal fotografiert man mehr, als da ist.“

Martha stellte das Bild auf die Fensterbank.

Und wusste: Sie war da.


Im Juni, als die Nächte wieder warm waren, geschah es.

Stippe stand am Fenster, blickte hinaus.

Dann hob er den Kopf.

Er schnüffelte, tappte zur Tür, sah Martha an.

„Was hast du?“

Er blickte zurück, dann wieder zur Tür.

Also öffnete sie.

Stippe trat hinaus.

Langsam.

Der Dackel wartete schon.

Die Katze sprang von der Mauer.

Der Papagei – woher auch immer – zog einen Kreis über dem Garten.

Und Stippe machte genau das, was Emma einst getan hatte:

Er lief zum Ahorn an der Ecke.

Hielt inne.

Sah zurück.

Dann bellte er. Ein einziges Mal.

Hell.

Klar.

Und Martha?

Sie stand in der Tür, eine Hand auf dem Rahmen, die andere an der Brust.

Und lächelte.

Nicht, weil etwas vorbei war.

Sondern weil etwas weiterging.

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