Das Fenster zur Straße | Er wartete jeden Tag vor dem Fenster – bis zum Ende. Niemand wusste, warum.

Teil 6: Der Tag ohne Schritte

Der Winter hielt die Stadt fest.
Die Kastanie gegenüber war nur noch ein schwarzes Gerippe im Schnee.

Und in Mathildes Wohnung war alles wie immer –
bis es das nicht mehr war.

Basil lag auf dem gewohnten Teppich,
vor dem Schlafzimmer.

Dort, wo er jede Nacht wachte,
jedes Atmen hörte,
jede Bewegung wahrnahm.

Doch heute –
war da nichts.
Keine Schritte.
Kein Licht.
Kein Murmeln, kein Teekessel.

Nur Stille.

Er wartete.
Er hob den Kopf,
legte ihn wieder ab.

Hob ihn erneut.
Dann stand er auf.

Langsam.
Bedacht.
Er kratzte leise an der Tür.
Einmal.
Zweimal.

Keine Antwort.

Er winselte kaum hörbar.
Dann setzte er sich.
Wartete.

Draußen wurde es hell.
Die Vögel begannen zaghaft zu singen.
Im Treppenhaus klapperte ein Briefkastenschlüssel.

Doch in der Wohnung blieb es dunkel.
Und kalt.

Am späten Nachmittag klopfte jemand an die Tür.
Frau Klein vom Blumenstand.

Sie hatte bemerkt, dass das Fenster heute leer blieb.
Keine Silhouette. Kein Basil. Keine Mathilde.

„Frau Brohm?“ rief sie.
Keine Antwort.

Sie öffnete mit dem Ersatzschlüssel,
den Mathilde ihr vor Jahren anvertraut hatte.

Drinnen roch es nach getrockneten Kräutern und alter Wolle.
Und nach… Abwesenheit.

Frau Klein betrat das Schlafzimmer.
Basil wich nicht von der Bettkante.

Sein Kopf lag ruhig auf der Matratze.
Sein Blick war leer.
Traurig.
Er wusste es längst.

Mathilde lag da,
die Decke bis zum Kinn,
die Augen geschlossen,
die Hände gefaltet.
Friedlich.
Still.

Ein leichtes Lächeln auf den Lippen,
als hätte sie im Traum jemanden wiedergefunden.

Frau Klein trat näher.
Tränen liefen ihr über die Wangen.
Sie strich über Mathildes Stirn
und flüsterte:

„Gute Reise, meine Liebe.“

Basil hob kurz den Kopf,
seine Augen ruhten auf ihr.

Dann legte er sich wieder hin,
dicht an Mathildes Seite.

Er blieb dort die ganze Nacht.
Und niemand hatte das Herz,
ihn wegzuschicken.

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