Das Fenster zur Straße | Er wartete jeden Tag vor dem Fenster – bis zum Ende. Niemand wusste, warum.

Teil 10: Die Geschichte lebt weiter

Es war ein Sonntagmorgen,
als Basil nicht mehr kam.

Clara wartete.
Sie hatte das Käsebrot wie immer dabei,
und ihr Notizbuch lag aufgeschlagen in ihrem Schoß.

Die Kastanie rauschte leise.
Ein paar Kinder lachten in der Ferne.
Aber der Platz unter dem Fenster blieb leer.

Sie wartete bis zum Sonnenuntergang.
Dann stand sie auf
und lief den Weg,
den Basil sonst gegangen war.

Am Ende des kleinen Weges,
hinter dem alten Gemüseladen,
fand sie ihn.

Er lag zusammengerollt unter einem Holzbogen,
ein letzter warmer Ort.
Der Schal, den ein Kind ihm vor zwei Wintern geschenkt hatte,
lag noch locker um seinen Hals.

Seine Augen waren geschlossen.
Seine Pfoten ruhig.
Als hätte er einfach beschlossen,
dass es nun gut sei.

Clara kniete sich zu ihm,
legte eine Hand auf seinen Rücken.
Er war kalt.
Aber friedlich.

Keine Angst.
Kein Schmerz.
Nur Stille.

Später am Abend,
mit Hilfe der Nachbarn,
wurde ein kleiner Platz unter der Kastanie vorbereitet.
Ein schlichtes Holzkreuz,
ein Häufchen Erde,
und Claras Notizbuch.

Sie riss eine Seite heraus
und legte sie in einer kleinen, wetterfesten Hülle dazu.

Darauf stand:

„Für Mathilde – und für ihren Hund,
der nie vergaß,
nie fortlief,
und jeden Tag aufs Neue liebte.“

In den Wochen danach blieben Menschen kurz stehen.
Einige streichelten das Holzkreuz,
andere flüsterten:
„Er war besonders.“

Clara zeichnete das Fenster.
Und darunter:
Basil.
Wartend.
Ewig wartend.

Sie hängte das Bild in die Bibliothek der Schule.
Und jedes Jahr im Winter
erzählte sie die Geschichte von Basil.

Nicht als Märchen.
Sondern als das, was es war:
Ein gelebtes Versprechen.

Und wenn man heute durch die Luisenstraße in Görlitz geht,
blicken manche Menschen hoch
zum dritten Fenster links im dritten Stock.
Und wenn sie dann nach unten schauen –
sehen sie ihn vielleicht,
wenn auch nur für einen Moment:
Einen grauen Hund.
Mit ruhigen Augen.
Und einem Herz,
das niemals aufhörte zu warten.

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