Als ich eine Woche nach der Beerdigung wieder in meinem Büro in Hamburg saß, merkte ich, dass mein Vater mir mehr hinterlassen hatte als eine Metallkiste und 23,46 Euro.
Er hatte mir eine Frage vererbt, die mich nicht mehr losließ: Was ist eigentlich ein „reiches Leben“?
Auf dem Papier war ich erfolgreich.
Berater, gutes Gehalt, Glasgebäude mit Blick auf die Elbe, Firmenhandy, Bonusmodell.
Aber seit ich in dieser kleinen Küche in Süd-Thüringen gesessen hatte, roch mein Leben plötzlich ein bisschen nach abgestandenem Filterkaffee und Holzstaub und das fühlte sich seltsam tröstlich an.
Ich ertappte mich dabei, wie ich während Meetings gedanklich abdriftete.
Die Stimmen der Kollegen wurden zu einem Summen im Hintergrund, während ich darüber nachdachte, wie mein Vater mit seiner krakeligen Schrift „BEZAHLT“ hinter einen Namen gesetzt hatte.
Bei einem Projektmeeting über „Effizienzsteigerung im Personalwesen“ sah ich auf die PowerPoint und dachte nur:
Mein Vater hätte sich totgelacht über unsere Folien und trotzdem mehr für Menschen getan als wir mit unseren Strategiepapiere.
Abends, in meiner Wohnung, öffnete ich seinen alten Ringbuchordner noch einmal.
Ich hatte ihn mit nach Hamburg genommen, als wäre es ein lebendiges Wesen, das ich nicht einfach im Dorf zurücklassen konnte.
Zwischen den Rechnungen steckte ein kleiner Zettel, den ich vorher übersehen hatte.
Kein Datum, nur ein Satz, unterstrichen:
„MAN SIEHT EINEN MENSCHEN NIE GANZ. DER REST LIEGT UNTER DEM, WAS ER NICHT SAGT.“
Ich starrte auf diese krummen Buchstaben.
Mein Vater, der Mann, der bei jedem Versuch eines ernsten Gesprächs nur „Ach was“ sagte, hatte sich heimlich in Lebensweisheiten geübt.
Ich legte den Zettel zur Seite, griff zum Handy und rief Klaus aus der Werkstatt an.
„Na, Großstädter“, brummte er. „Kommst du klar da oben?“
Ich schluckte.
„Soweit schon. Sag mal… ist seit der Beerdigung jemand gekommen? So, wie wir besprochen hatten?“
Klaus seufzte hörbar.
„Hans ist keine drei Tage unter der Erde, und gestern stand schon die erste da. Alleinerziehende Mutter, Mann abgehauen, Job im Supermarkt, Auto kaputt, braucht es aber für die Spätschicht. Ich hab ihr gesagt, wir schauen, was sich machen lässt.“
Mein Magen zog sich zusammen.
Es war etwas anderes, großspurig am Küchentisch zu verkünden, man würde „die ersten sechs Monate übernehmen“, und etwas ganz anderes, wenn da plötzlich ein echter Mensch hinter dieser Idee stand.
„Mach den Kostenvoranschlag“, sagte ich schließlich. „Schick ihn mir. Ich übernehme die Rechnung. Aber… du weißt schon.“
„Ja, ja“, knurrte er. „Sie soll glauben, es wäre Glück. Oder Kulanz. Oder der liebe Gott. Wie bei Hans eben.“
Als ich auflegte, spürte ich ein seltsames Kribbeln im Bauch.
Angst und Erleichterung gleichzeitig.
Am nächsten Morgen saß ich mit meiner Kollegin Jana in der Kantine.
Sie rührte in ihrem Cappuccino und erzählte von Immobilienpreisen und ETF-Sparplänen.
„Du solltest echt mehr zurücklegen“, sagte sie. „In unserem Alter muss man an später denken.“
„Mein Vater hat auch an später gedacht“, entfuhr es mir. „Nur eben nicht an sein eigenes.“
Sie sah mich überrascht an, und ich erzählte.
Vom Konto mit 23,46 Euro.
Vom Ringbuch.
Vom Netz, das er gespannt hatte.
Jana hörte ungewöhnlich still zu.
„Krass“, murmelte sie schließlich. „So was macht doch heute keiner mehr.“
„Doch“, sagte ich, bevor ich nachdenken konnte. „Einer schon. Er ist nur tot. Und ich glaube, ich…“
Ich stockte.
„…ich glaube, ich soll da weitermachen.“
Jana legte den Kopf schief.
„Du willst eine Art… Hans-Fonds gründen?“
Ich verzog das Gesicht.
„Bitte nenn es nie wieder so.“
Sie lachte leise, wurde dann wieder ernst.
„Aber ehrlich, Tom… vielleicht brauchst du genau das. Du rennst seit Jahren irgendwelchen Zielvereinbarungen hinterher. Vielleicht ist es Zeit für etwas, das nicht in Prozent messbar ist.“
An diesem Abend öffnete ich ein leeres Dokument auf meinem Laptop.
Oben schrieb ich: „Notizen – Sicherheitsnetz“.
Darunter:
– Klaus anrufen, wenn Fälle auftauchen
– jährlich festen Betrag einplanen
– nur anonym helfen
– keine Heldengeschichten aus sich selbst machen
Ich starrte auf den Bildschirm.
Mein Leben, das bisher aus Zielen, Kennzahlen, Karriereleitern bestanden hatte, bekam plötzlich eine andere Art von Struktur.
Und trotzdem war da etwas, das nagte.
Ein schlechtes Gewissen, das leise fragte:
Hilfst du wirklich wegen der Menschen oder nur, weil du das Gefühl ertragen willst, deinen Vater verpasst zu haben?
Die Antwort hatte ich nicht.
Aber ich wusste, dass ich trotzdem anfangen musste.
Ein paar Tage später klingelte mein Handy mitten in einer Präsentation.
Unbekannte Nummer aus Thüringen.
Ich drückte den Anruf weg.
Der Kunde redete weiter über Wachstumsstrategien.
Das Telefon klingelte wieder.
Diesmal vibrierte es so hart auf dem Konferenztisch, dass es alle hörten.
„Entschuldigung“, murmelte ich, griff nach dem Handy und sah Janas Blick, der sagte: Geh dran.
Ich nickte dem Kunden zu.
„Eine Minute, tut mir leid. Wichtiger privater Anruf.“
Draußen, auf dem Flur, meldete sich eine brüchige Stimme.
„Hier ist Krämer. Ich… ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Ihr Vater hat mir immer mit dem Heizöl geholfen.“
Ich spürte, wie mir die Kehle eng wurde.
„Natürlich erinnere ich mich, Frau Krämer.“
„Die vom Pflegedienst haben gesagt, ich soll mich melden, wenn… wenn ich nicht weiß, wie ich den Winter schaffen soll. Aber Ihr Vater ist ja…“
Sie brach ab.
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