Das geheime Netzwerk der Güte, das mein Vater hinterließ, ohne ein Wort zu sagen

Ich lehnte mich gegen die Wand des sterilen Büroflurs, der plötzlich viel zu hell wirkte.

„Frau Krämer“, sagte ich leise. „Hans ist weg, ja. Aber das, was er gemacht hat, hört nicht auf. Nicht, solange ich noch atme.“

Ich hörte ihr leises Schluchzen.

„Aber ich kann Ihnen doch nicht einfach…“

„Sie können mir eine Rechnung schicken“, unterbrach ich sie und musste lächeln, weil mir klar wurde, wie sehr ich klang wie er. „Mehr nicht.“

Als ich auflegte, stand ich noch einen Moment da.

Auf der einen Seite des Lebens: Flipcharts, Projektziele, Karrierepfade.

Auf der anderen: ein alter Heizöltank in einem Thüringer Dorf und eine Frau, die durch den Winter kommen musste.

Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, auf einer Brücke zwischen diesen Welten zu stehen.

Am Wochenende fuhr ich wieder hinunter.

Nicht für die Beerdigung, sondern für etwas, das sich wie eine leise Fortsetzung anfühlte.

Klaus erwartete mich in der Werkstatt, ölverschmierte Hände, müdes Lächeln.

„Da bist du ja“, sagte er. „Ich hab da jemanden, den du kennenlernen solltest.“

Hinten, in der Ecke, stand ein junger Typ mit verschränkten Armen.

Kaputte Jeans, zu dünne Jacke, misstrauischer Blick.

So hatte ich mir früher „Problemfälle“ vorgestellt.

„Das ist Ben“, sagte Klaus. „Ausbildung abgebrochen, Eltern weggezogen, hängt seit Monaten rum. Ihr Vater hat ihn ein paar Mal nach Hause gefahren, wenn er nachts allein an der Bushaltestelle stand.“

Ben hob den Kopf.

„Hans war der einzige, der mich nicht wie Dreck behandelt hat“, murmelte er. „Und jetzt ist er weg.“

Ich sah ihn an und wusste plötzlich, was mein Vater gemeint hatte, wenn er sagte, jemand brauche Würde, keine Almosen.

„Wie sieht’s aus, Ben“, hörte ich meine eigene Stimme sagen. „Hast du Lust, dir zu beweisen, dass du zuverlässig sein kannst? Klaus könnte jemanden gebrauchen, der ihm zur Hand geht. Die ersten Monate klären wir im Hintergrund. Für dich gilt nur eins: Du kommst pünktlich.“

Ben blinzelte.

„Warum machen Sie das? Sie kennen mich doch gar nicht.“

Ich dachte an das Ringbuch, an die krakelige Schrift, an den Zettel ohne Datum.

„Sagen wir so“, antwortete ich. „Jemand, der dich mochte, hat mir sein Vermögen vererbt. Und das sah anders aus, als ich dachte.“

Später, als ich mit Klaus einen Kaffee trank, klopfte er mir auf die Schulter.

„Wenn er das sehen könnte, der Hans“, sagte er rau. „Der würde die Augen verdrehen und sagen, du sollst dich nicht so anstellen. Und dann wäre er stolz wie Bolle.“

Ich sah zum Werkstatttor hinaus, wo Ben gerade einem Kunden die Tür aufhielt, unsicher, aber bemüht.

Mein Vater hatte kein Denkmal bekommen.

Kein Platz, kein Schild, keine Gedenktafel.

Aber vielleicht, dachte ich, braucht echte Größe auch kein Schild.

Vielleicht reicht es, wenn ein paar Leute in einem kleinen Dorf und ein Berater in Hamburg anfangen, sich zu fragen, ob 23,46 Euro wirklich das Ende einer Geschichte sind oder erst der Anfang.

Ich nahm den Kugelschreiber mit den Zahnspuren aus meiner Jackentasche, drehte ihn zwischen den Fingern und lächelte.

„Ruhe in Frieden, Papa“, dachte ich. „Das Netz hält. Und wir knüpfen weiter.“

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