Als Moritz in jener Heiligabendnacht den Messingschlüssel erneut in der Tasche spürte, wusste er plötzlich: Das war nicht nur ein Geschenk, das war eine Tür. Und ich hatte ihm gerade gezeigt, wie man sie öffnet.
Er saß noch immer auf dem Teppich, die Schatulle vor sich wie ein kleines, schiefes Heiligtum. Seine Schultern bebten, aber jetzt war es kein wütendes Beben mehr, sondern etwas, das sich endlich lösen durfte.
„Opa…“, brachte er hervor, und seine Stimme klang wie Sandpapier. „Es tut mir leid. Ich… ich war so ein Idiot.“
Ich schüttelte langsam den Kopf, nicht um ihn freizusprechen, sondern um ihm zu zeigen, dass ich ihn nicht mehr prüfte. „Du warst achtzehn“, sagte ich leise. „Achtzehn ist ein Alter, in dem man glaubt, Zeit wäre unendlich.“
Moritz schluckte, wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen und sah wieder auf die Box. Er berührte den geklebten Riss am Deckel, als würde er die Stelle fühlen wollen, an der unser Leben damals gebrochen war.
„Kann… kann man sie noch mal hören?“, fragte er, so vorsichtig, als könnte die Bitte die Luft zerreißen.
Ich nickte. „Aber diesmal nicht, weil du es musst“, sagte ich. „Sondern weil du es willst.“
Er holte den Schlüssel hervor. Seine Finger zitterten, und ich sah, wie er ihn fast fallen ließ, aus Angst, irgendetwas falsch zu machen. Dann schob er ihn in das winzige Loch an der Seite, genau dort, wo ich ihn vorhin hineingesteckt hatte.
Klick. Klick. Klick.
Das trockene Geräusch füllte den Raum wie ein Herzschlag aus Metall. Er drehte nicht zu schnell, nicht zu gierig, sondern mit einer Geduld, die ich bei ihm noch nie gesehen hatte.
Die Zahnräder begannen zu laufen, dieses raue Surren, unvollkommen, ehrlich. Und dann kam sie wieder, die Stimme, die sich wie Wärme in den Winter schob.
„Fröhliche Weihnachten, mein kleiner Spatz…“
Moritz presste die Lippen zusammen, als müsste er verhindern, dass ein Laut ihn zerbricht. Als das Lachen am Ende knisternd verklang, blieb er mit gesenktem Kopf sitzen, und die Stille danach war nicht mehr kalt, sondern schwer und heilig.
„Ich hab’ mich so angestrengt, nicht daran zu denken“, flüsterte er. „Als ob’s dadurch leichter wird.“
Ich setzte mich wieder auf den Sessel, meine Hände auf die Armlehnen, als müsste ich mich festhalten. „Manchmal verwechselt man ‚nicht daran denken‘ mit ‚überleben‘“, sagte ich. „Aber irgendwann merkt man: Man lebt, ja… nur ohne etwas in sich.“
Moritz sah hoch. „Du hast das fünf Jahre lang gemacht?“, fragte er, und diesmal war keine Anklage in seiner Stimme, sondern Staunen. „Nur für… für so eine Minute?“
„Für diese Minute“, korrigierte ich. „Und für den Moment, in dem du begreifst, dass sie nicht weg ist, nur weil du sie nicht hörst.“
Er atmete aus, lang, als hätte er die Luft seit Jahren angehalten. Dann blickte er um sich, zum Kerzenschein, zum kleinen Krippchen auf dem Regal, zu den alten Bildern an der Wand.
„Warum hast du’s mir nicht früher gegeben?“, fragte er.
Ich schaute auf meine Hände. Die Finger waren knochig, die Gelenke dick, die Haut dünn wie Papier. „Weil ich dich nicht zwingen wollte, traurig zu sein“, sagte ich. „Und weil ich wusste: Wenn ich dir nur einen Brief gebe, legst du ihn weg. Du bist nicht böse, Moritz. Du bist nur… laut im Kopf.“
Er verzog das Gesicht, als hätte ich ihn bei etwas ertappt. „Ja“, murmelte er. „Laut.“
Ich stand langsam auf und ging in die kleine Küche. Der Wasserkocher pfiff, und der Dampf beschlug das Fenster, hinter dem die Schneeflocken weiterhin tanzten, als hätte die Welt keine Ahnung von dem, was hier gerade passierte.
Mit zwei Tassen Kamillentee kam ich zurück. Moritz nahm seine, hielt sie zwischen beiden Händen und schaute in den Dampf, als könnte er darin etwas lesen.
„Weißt du noch, wie sie gerochen hat?“, fragte ich, ohne ihn anzusehen.
Moritz’ Stirn legte sich in Falten. Er kämpfte mit der Erinnerung, wie man mit einer Tür kämpft, die klemmt. „Ich… ich glaube nach…“, er stockte, schämte sich, „ich weiß es nicht.“
Ich nickte, als wäre das eine ganz normale Antwort. „Nach Seife und Wintercreme“, sagte ich. „Und manchmal nach Farbe, wenn sie wieder irgendein altes Möbelstück gestrichen hat, weil sie nicht ertragen konnte, wenn etwas einfach so kaputt blieb.“
Moritz blinzelte schnell. „Du redest so, als wäre sie gestern hier gewesen.“
„Für mich ist sie es manchmal“, sagte ich. „Nicht als Geist. Nicht so ein Unsinn. Sondern als Gewohnheit. Als Stimme im Kopf, die sagt: ‚Mach’s ordentlich, Papa.‘“
Er hob die Tasse an die Lippen, trank, und das Zittern seiner Finger wurde ein bisschen weniger. Dann sah er auf die Schatulle, und plötzlich wirkte er älter als vor einer Stunde.
„Opa“, sagte er, „hat sie… hat sie gewusst, dass sie…“
Ich ließ die Frage nicht in die Luft fallen, ich fing sie auf. „Sie hat es geahnt“, antwortete ich. „Und sie hat sich geweigert, dich mit Angst zu füttern. Sie hat dich lieber mit Liebe vollgestopft, bis kein Platz mehr war.“
Moritz schluckte. „Und dann war sie weg.“
„Dann war sie weg“, wiederholte ich, und mein Herz tat diesen alten, vertrauten Schmerz. „Und wir alle haben anders reagiert. Deine Oma hat mehr gearbeitet. Dein Vater hat mehr geschwiegen. Und du… du bist schneller geworden.“
Er zuckte zusammen, als hätte ihn das Wort getroffen. „Schneller“, flüsterte er. „Ja. Immer schneller.“
Ich beugte mich vor, nahm die Schatulle vorsichtig in die Hand und drehte sie einmal. „Siehst du den Riss?“, fragte ich.
Moritz nickte.
„Das ist nicht nur Holz“, sagte ich. „Das ist ein Datum. Das ist eine Sekunde. Das ist der Moment, als die Nachricht kam und ich das Ding fallen ließ, weil meine Hände plötzlich zu schwer waren.“
Moritz’ Blick blieb an der geklebten Stelle hängen. „Und du hast’s repariert.“
„Nicht schön“, sagte ich trocken. „Aber es hält.“
Er lächelte kurz, ein winziges, nasses Lächeln, das sofort wieder verschwand. „Wie du“, murmelte er.
Die Worte trafen mich, weil sie wahr waren. Ich lehnte mich zurück und spürte, wie meine Brust sich hob und senkte, langsamer als früher.
„Moritz“, sagte ich nach einer Weile, „du hast gedacht, ich schenke dir Müll. Dabei habe ich dir etwas gegeben, das du nicht kaufen kannst. Aber damit ist es nicht fertig.“
Er hob den Kopf. „Was meinst du?“
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