🐾 Teil 5: Ein Korb mit Erinnerung
Der nächste Tag begann mit Stille. Keine Autos, keine Stimmen auf der Straße, nicht einmal die Tauben auf dem Dachfirst gurrten. Monika spürte sofort, dass dieser Tag anders war. Etwas lag in der Luft. Nicht Bedrohung, nicht Kälte. Eher so etwas wie Erwartung.
Sie öffnete das Fenster, ließ den schwachen Novemberwind ins Zimmer. Kaspar schlief noch. Immer noch in dem großen Körbchen vom Vortag. Er hatte es nicht verlassen, seit er sich darin eingerollt hatte.
Monika trat näher. Der Hund atmete ruhig. Seine Flanken hoben sich langsam. Sie beobachtete ihn, lange, fast ehrfürchtig. Dann beugte sie sich hinab, legte eine Hand auf seine Schulter.
„Alles gut?“, flüsterte sie.
Kaspar bewegte sich nicht. Doch als sie sich umdrehte, hörte sie ein leises, kehliges Geräusch. Nicht Winseln. Auch kein Bellen.
Es klang wie ein Seufzer.
Sie frühstückte allein. Tee, eine Scheibe Brot, etwas Quark. Die Zeitung blieb ungeöffnet auf dem Tisch liegen. Ihre Gedanken wanderten zurück. Nicht zu gestern, nicht zu den Briefen oder Anfragen. Sondern weiter zurück.
Viel weiter.
Vor fast dreißig Jahren hatte sie einmal einen Hund gehabt. Einen kleinen Mischling, schwarz mit weißen Pfoten. Er hieß Mohrle. Nicht besonders originell, aber er hatte zu ihm gepasst. Monika hatte ihn aus dem Tierheim geholt, noch bevor sie Hans kennenlernte. Mohrle war acht Jahre bei ihr gewesen. Bis zum Herzstillstand an einem heißen Augusttag.
Sie erinnerte sich an sein Körbchen. Es war das erste, das sie je genäht hatte. Aus einem alten Wollmantel ihrer Mutter. Sie hatte es nie weggeworfen. Nach seinem Tod hatte sie es gewaschen, zusammengefaltet und in den Schrank gelegt. Ganz unten, unter Kissenbezügen, fast vergessen.
Bis heute.
Sie ließ die Nähmaschine stehen, fuhr in den Flur, öffnete den Wäscheschrank.
Es dauerte einen Moment, bis sie es fand.
Ein graues Stoffbündel. Verwaschen. Der Rand ausgefranst. Ein kleiner Knopf in Herzform an der Seite aus Holz, rissig, aber noch fest angenäht.
Sie legte das Körbchen auf den Tisch. Streichelte über den Stoff, als würde sie ein Tier begrüßen.
Dann stellte sie es neben das neue Körbchen, in dem Kaspar schlief.
Er öffnete die Augen.
Und sah auf das alte Körbchen.
Ganz langsam hob er den Kopf. Rutschte mit den Vorderpfoten ein Stück vor. Beschnupperte den Stoff. Leckte kurz daran. Und legte sich dann, zu Monikas völligem Erstaunen, vorsichtig in das alte Körbchen hinein.
Es passte.
Als hätte es immer auf ihn gewartet.
Monika spürte Tränen in den Augen. Nicht vor Trauer. Sondern wegen diesem seltsamen Gefühl, dass sich ein Kreis schloss.
Später, während sie an einem neuen Auftrag arbeitete, hörte sie die Post.
Ein leises Klappern. Kein Klingeln. Nur der Briefschlitz, der zuschnappte.
Sie rollte zur Tür. Ein Umschlag lag auf der Matte. Ohne Briefmarke, ohne Adresse. Nur ihr Name, in krakeliger Handschrift.
Sie öffnete ihn langsam.
Drinnen war ein kurzer Brief. Und ein Foto.
**„Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern.
Vor über dreißig Jahren haben Sie ein Körbchen genäht.
Für einen kleinen schwarzen Hund. Ich sah Sie oft im Park.
Ihr Lachen blieb in meinem Kopf.
Heute gebe ich das zurück, was ich damals nicht sagen konnte.“**
Das Foto zeigte einen Mann, vielleicht fünfzig, mit einem jungen Hund an der Leine. Im Hintergrund: eine Frau auf einer Parkbank, ein Körbchen auf dem Schoß.
Monika erkannte sich selbst.
Jung. Lächelnd. Mit Mohrle.
Sie wusste nicht, wer das Foto gemacht hatte. Oder wie es zu ihr zurückkam. Doch es war echt.
Und es fühlte sich an wie ein verlorenes Stück ihres Lebens, das den Weg zurückgefunden hatte.
Anni kam am Nachmittag.
Sie brachte Stoffe, aber diesmal war es nebensächlich. Monika zeigte ihr das Foto, erzählte vom alten Körbchen, von Kaspar.
Anni hörte zu. Dann nahm sie das alte Körbchen in die Hand, betrachtete die Naht, den Knopf, den Stoff.
„Sie nähen nicht nur mit der Hand“, sagte sie leise. „Sie nähen mit Erinnerung.“
Monika antwortete nicht sofort.
Dann sagte sie:
„Vielleicht ist das alles, was mir noch bleibt. Dass ich Dinge festhalte, die andere längst vergessen haben.“
Anni schüttelte den Kopf.
„Nein. Sie geben sie weiter.“
Am Abend, als das Licht schon lange verschwunden war und der Ofen gleichmäßig knisterte, setzte sich Monika an den Tisch.
Sie nahm das Notizbuch zur Hand.
„10. November
Heute hat Kaspar das Körbchen gewählt, das ich für Mohrle gemacht hatte.
Das erste Körbchen.
Ich glaube, er kannte den Geruch.
Oder vielleicht kannte er einfach mich.“
Sie klappte das Buch zu, löschte die Lampe, rollte ans Fenster.
Draußen war es dunkel. Kein Mensch auf der Straße. Kein Schatten.
Aber etwas lag auf dem Fensterbrett.
Ein Umschlag. Nass vom Tau.
Sie öffnete ihn mit zitternden Fingern.
Drinnen ein kleiner, getrockneter Zweig Lavendel.
Und ein Wort.
„Erinnerung.“
Monika hielt den Zweig fest, als wäre er lebendig.
Dann trat sie zu Kaspar, legte den Lavendel vorsichtig neben seinen Kopf.
Er schnupperte. Und schlief weiter.
Als Monika sich umdrehte, sah sie durch das Fenster einen Mann stehen – reglos, mit dem Blick auf das Haus gerichtet.