🐾 Teil 6: Wer bist du?
Er stand da. Einfach so. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Kein Schirm, kein Mantel. Nur eine dunkle Jacke und eine Mütze, tief ins Gesicht gezogen. Die Hände in den Taschen, die Schultern leicht nach vorne gebeugt.
Monika sah ihn durch das Fenster. Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen. Doch etwas an seiner Haltung kam ihr bekannt vor. Nicht nur vertraut, sondern schmerzlich vertraut. Wie ein Schatten aus einem alten Fotoalbum.
Sie bewegte sich nicht. Der Mann rührte sich ebenfalls nicht. Kein Schritt, kein Zeichen. Minuten vergingen. Dann, ohne einen Ton, drehte er sich um und ging. Langsam, mit leicht schleppendem Gang, bis er in der Dunkelheit verschwand.
Monika blieb noch lange am Fenster sitzen.
Am nächsten Morgen war der Himmel klar. Die Sonne schien über die Dächer von Bad Langensalza, als wolle sie beweisen, dass nichts gewesen war. Doch Monika wusste es besser.
Sie war früher wach geworden als sonst. Der Traum hatte sie aufgeweckt – ein Park, Herbstlaub, Schritte hinter ihr, ein Mann, der etwas sagen wollte, aber schwieg.
Als sie die Gardine zur Seite schob, lag etwas auf dem Fensterbrett.
Ein Briefumschlag. Dieses Mal aus dickem Papier, fast wie Pergament. Kein Name darauf. Kein Absender.
Sie öffnete ihn mit vorsichtigen Fingern.
Drinnen lag ein Foto.
Ein Hund. Kaspar. Aber jünger. Das Fell dunkler, die Augen lebendiger. Und neben ihm – ein Mann.
Etwas abgewandt, das Gesicht nicht ganz zu erkennen. Er trug eine Mütze.
Auf der Rückseite des Fotos standen zwei Sätze, in der gleichen krakeligen Schrift wie der Brief zuvor.
„Er hat mir Gesellschaft geleistet, als ich nichts mehr hatte.
Ich schenke ihn jetzt jemandem, der ihm Frieden geben kann.“
Monika hielt das Bild lange in der Hand. Dann sah sie zu Kaspar.
Er schlief. Der Kopf lag auf dem alten Körbchen von Mohrle, der Atem ging ruhig. Doch seine Stirn zuckte leicht. Vielleicht träumte er. Vielleicht erinnerte er sich.
Sie streichelte ihm übers Fell.
„Wer war er, Kaspar? Und warum bist du bei mir?“
Anni kam gegen Mittag.
Sie brachte frische Stoffe mit – warme Farben, dicker Baumwollstoff, ein Stück alter Vorhang mit gelben Blumen.
Doch Monika war mit den Gedanken woanders.
Sie zeigte Anni das Foto.
„Der war bei uns“, sagte Anni nach einem Moment. „Er hat den Hund damals abgegeben. Ohne Namen. Hat nichts gesagt. Nur: Er kann nicht mehr. Muss gehen.“
Monika sah sie an.
„Weißt du seinen Namen?“
„Nein. Wir fragen nie, wenn jemand anonym bleiben will. Er war still. Aber freundlich. Und er hat geweint, als er ging.“
Sie tranken Tee zusammen, ohne viel zu reden. Draußen fielen erste Schneeflocken. Kleine, federleichte Punkte, die sich auf dem Fenstersims sammelten wie vergessene Gedanken.
Monika blätterte im Notizbuch. Ihre Schrift wurde größer in den letzten Tagen. Die Hand zitterte manchmal.
„Kaspar gehörte einem Mann, der nicht sprach.
Der aber fühlte.
Und als er nichts mehr hatte, brachte er ihn zu mir.
Nicht als Last.
Sondern als Geschenk.“
In der Nacht konnte sie nicht schlafen. Immer wieder sah sie das Bild vor sich. Den Hund. Den Mann. Den Blick, der halb verborgen blieb.
Sie ging nicht ins Bett. Blieb am Fenster sitzen. Kaspar schnarchte leise auf dem Teppich.
Irgendwann, gegen drei Uhr, hörte sie ein Geräusch.
Kein Schatten diesmal. Kein Klopfen.
Nur ein leises Schleifen.
Sie öffnete die Tür.
Draußen lag ein Päckchen.
Klein. Mit einer Schnur zugebunden.
Sie hob es auf, nahm es mit hinein.
Im Inneren: ein alter Schlüssel. Abgewetzt, mit einem Messingkopf. Und ein kleiner Zettel.
„Er hat oft dort geschlafen.
Vielleicht findet er jetzt Ruhe.“
Keine weiteren Hinweise.
Nur das Wort „Werkstatt“ stand auf der Rückseite.
Monika erstarrte.
Die Werkstatt. Hinterhof. Früher gehörte sie Hans.
Seit seinem Tod hatte sie niemand betreten.
Am nächsten Morgen nahm sie den Schlüssel. Ihre Finger schlossen sich darum, als müsse sie sich vergewissern, dass er echt war.
Sie zog sich warm an, schob sich durch den schmalen Flur zur Hintertür. Kaspar hob kurz den Kopf, folgte ihr nicht, blieb liegen.
Die Werkstatt lag still. Ein Ort, der zu atmen schien, auch wenn niemand darin lebte.
Die Tür war schwergängig. Doch der Schlüssel passte.
Sie drückte sie langsam auf.
Drinnen roch es nach Staub und altem Holz. Sonnenlicht fiel durch das kleine Fenster auf die Werkbank. Werkzeuge hingen noch an der Wand, manche verrostet, manche blank.
Und auf dem Tisch lag etwas.
Ein Körbchen.
Halbfertig. Aus grobem Stoff, mit aufgenähtem Rand. Daneben: ein Zettel.
„Ich habe es nicht mehr geschafft.
Vielleicht schaffst du es.“
Monika streichelte über das Gewebe. Es war rau, unregelmäßig genäht. Nicht ihre Handarbeit. Aber mit Herz.
Sie schob sich zur Werkbank, nahm das Körbchen in den Schoß.
„Dann nähe ich es zu Ende.“
Stunde um Stunde verbrachte sie in der Werkstatt. Nadel für Nadel, Stich für Stich.
Als sie fertig war, lag das Körbchen vor ihr. Nicht perfekt. Aber ehrlich.
Sie brachte es hinein. Kaspar lag noch immer im Flur, die Augen halb geschlossen.
Sie legte das Körbchen neben ihn.
Er drehte den Kopf, sah es an. Dann schleppte er sich mühsam hinein. Legte sich hin. Und seufzte tief.
Monika setzte sich daneben. Ihre Hand ruhte auf seinem Rücken.
Sie verstand jetzt.
Der Mann mit der Mütze war kein Fremder.
Er war jemand, der Dinge zu Ende bringen wollte.
Durch sie.
In der Stille hörte sie ein Kratzen an der Tür und diesmal war es nicht der Wind.