🐾 Teil 7: Die Spur des Fotos
Es war kurz nach Mitternacht, als das Kratzen begann.
Monika hatte schon fast gedöst, den Kopf auf die Stuhllehne gelegt, eine Decke über den Knien. Kaspar lag zusammengerollt im neuen Körbchen. Seine Atmung war flach, aber ruhig.
Das Kratzen kam wieder.
Nicht laut. Aber bestimmt.
Sie hielt die Luft an.
Dann schob sie sich zum Flurfenster, vorsichtig, damit der Rollstuhl keine Geräusche machte.
Draußen – nichts.
Nur der Wind, der durch die Gasse fuhr. Oder?
Sie öffnete die Tür einen Spalt.
Und da stand sie.
Eine Katze.
Zerzaust, mager, mit einem zerfetzten linken Ohr.
Sie miaute nicht. Tat auch keinen Schritt auf sie zu. Saß einfach da. Ihre Augen groß und gelb im Licht der Außenlampe.
Monika öffnete die Tür ganz.
„Na, du auch?“
Die Katze kam langsam näher. Blieb an der Schwelle stehen. Sah zu Kaspar.
Dann trat sie leise ins Haus.
Am nächsten Morgen saßen sie zu dritt beim Frühstück.
Monika trank Kamillentee. Kaspar schlief wieder. Die Katze hatte sich auf das Fensterbrett im Wohnzimmer gelegt und beobachtete jeden ihrer Bewegungen.
„Ich hab dich nicht gerufen“, sagte Monika leise, „aber vielleicht hast du jemanden gesucht.“
Sie dachte an das halbfertige Körbchen, an das Foto, an die Zeilen auf dem Zettel.
Vielleicht ging es nicht mehr nur um Hunde. Oder Körbchen.
Vielleicht ging es um das, was dazwischen liegt. Das Unerzählte. Die Lücken zwischen Menschen und dem, was sie zurücklassen.
Anni kam am Nachmittag.
Sie brachte frische Wolle, ein kleines Päckchen Trockenfutter und eine Nachricht.
„Ich habe gefragt, Monika. Den Mann auf dem Foto kennt jemand.“
Monikas Herz klopfte schneller.
„Wie heißt er?“
„Erich Plenzdorf. Früher Tischler. Hat lange in der Südstadt gewohnt, dann krank geworden. Krebs, sagen sie. Vor einem Jahr gestorben.“
Monika sah zum Fenster hinaus. Die Katze war weg. Nur ein Pfotenabdruck im Staub blieb.
„Und Kaspar war sein Hund?“
Anni nickte. „Seit dem Tod seiner Frau. Danach war er allein. Kaspar soll ihn überall begleitet haben.“
Monika schloss die Augen.
Sie erinnerte sich an einen alten Mann, der manchmal vor dem Supermarkt saß. Immer ruhig. Mit einem Hund neben sich.
War das…?
„Er muss gewusst haben, dass er nicht mehr lange hat“, sagte sie leise.
Anni setzte sich ihr gegenüber.
„Ja. Und er wollte, dass Kaspar nicht ins Heim kommt. Dass er irgendwo ist, wo’s warm ist. Wo jemand näht. So hat er’s gesagt.“
Monika spürte, wie sich etwas in ihr löste. Wie ein Knoten, der zu lange still in der Brust gelegen hatte.
„Er hat ihn also nicht ausgesetzt. Er hat ihn mir geschickt.“
Sie holte das Foto aus der Schublade. Zeigte es Anni erneut.
„Da ist noch etwas.“
Anni beugte sich vor.
„Die Mütze“, sagte Monika. „Die kenn ich. Die war nicht von ihm. Die war von Hans.“
Anni runzelte die Stirn.
„Hans?“
„Mein Mann. Er hat so eine Mütze getragen. Die gleiche Form. Gleicher Stoff. Ich hab sie genäht. Vor über zwanzig Jahren.“
Anni schwieg einen Moment. Dann flüsterte sie:
„Meinst du… er kannte Hans?“
Monika nickte.
„Vielleicht hat er die Werkstatt übernommen, als Hans starb. Vielleicht hat er sie einfach offen gelassen. Vielleicht hat er mein Schild gesehen, damals im Schaufenster.“
Sie fuhr mit den Fingern über den Tisch.
„‚Monikas Handarbeit mit Herz für Mensch und Tier‘. So stand es da. Ich hab’s längst abgehängt. Aber vielleicht hat er es nicht vergessen.“
Am Abend saß sie wieder in der Werkstatt.
Der Duft von Staub und Leim lag in der Luft. Das Licht fiel weich durch die kleine Glühlampe über der Bank.
Vor ihr lag ein neuer Stoff.
Ein alter Vorhang, den sie von Anni bekommen hatte. Dick, orangefarben, mit gestickten Ranken.
Sie schnitt ihn leise zurecht.
Während ihre Finger nähten, flüsterte sie.
Nicht zu Kaspar, nicht zur Katze, sondern ins Leere. Vielleicht zu Hans. Vielleicht zu Erich.
„Ich hab nie gedacht, dass es so weitergeht“, sagte sie. „Dass ich noch mal einen Sinn finde. Dass die Nadel wieder mehr macht als nur flicken.“
Die Katze kam herein, sprang auf den Tisch, ohne ein Geräusch zu machen.
Monika lächelte.
„Auch du willst Gesellschaft? Dann bleib.“
Sie nannte sie Minna.
Weil das der Name der ersten Katze ihrer Kindheit war. Weil etwas in ihren Augen lag, das Erinnerung trug.
Minna war nicht anhänglich, aber auch nicht fern. Sie war einfach da. Wie ein stiller Gedanke, der einem durchs Zimmer folgt.
Kaspar akzeptierte sie, ohne einen Laut.
Die beiden lagen oft nebeneinander. Jeder in einem eigenen Korb. Als hätten sie sich darauf geeinigt, dass Nähe auch mit Abstand geht.
Ein paar Tage später klingelte es.
Es war eine junge Frau, das Haar in Zöpfen, mit einem Tragetuch vor der Brust.
Drinnen war ein kleiner Hund, zitternd, mit nur drei Beinen.
„Ich hab gehört, Sie machen Körbchen für besondere Tiere“, sagte sie schüchtern.
Monika sah sie lange an.
Dann bat sie sie herein.
Sie zeigte ihr die Stoffe, ließ sie fühlen, wählen, beschreiben, was der Hund braucht.
Als die junge Frau ging, hielt sie Monikas Hand einen Moment fest.
„Danke“, flüsterte sie. „Nicht nur für das Körbchen. Sondern dafür, dass Sie noch da sind.“
In der Nacht konnte Monika nicht schlafen.
Sie saß in der Werkstatt, der Mond fiel durch das Fenster.
Minna lag auf der Lehne. Kaspar schnarchte leise.
Monika schrieb in ihr Buch.
„Ich habe nichts Großes getan.
Nur genäht. Nur geschaut.
Aber wenn jemand dadurch nicht friert…
Oder nicht allein stirbt…
Dann war es genug.“
Sie legte den Stift weg.
Und dann, plötzlich, hörte sie es wieder.
Ein Kratzen.
Doch diesmal – kam es von innen.
Kaspar hatte sich erhoben. Stand vor dem alten Ofen. Starrte in die Ecke.
Minna war aufgesprungen. Die Ohren nach hinten.
Monika schob sich langsam heran.
Da lag etwas.
Ein Bündel Papier.
Wie es dorthin kam – wusste sie nicht.
Sie hob es auf.
Obenauf: ein Umschlag.
Und darauf stand in klarer Schrift:
„Für die, die zuhört.“
Sie nahm das Bündel in die Hand und ihr Herz schlug schneller als seit Jahren.