🐾 Teil 8: Die Angst vor dem Ende
Der Umschlag fühlte sich warm an, als hätte jemand ihn eben erst hingelegt.
Monika saß wieder am Küchentisch. Ihre Finger zitterten leicht, nicht vor Kälte, sondern wegen dieser eigenartigen Mischung aus Aufregung und Furcht. Kaspar lag neben ihr, sein Kopf ruhte schwer auf den Pfoten. Minna saß auf der Fensterbank und beobachtete die Szene, als verstünde sie mehr, als man einer Katze zutrauen würde.
Sie öffnete den Umschlag.
Darin: drei Seiten, von Hand beschrieben. Kein Datum, keine Adresse. Aber die Handschrift war ordentlich, fast schulbuchmäßig. Auf der ersten Seite stand nur ein einziger Satz:
„Manchmal ist das Schönste, was man geben kann, der Abschied selbst.“
Sie hielt inne. Spürte, wie sich etwas in ihrer Brust regte, wie ein altes Seufzen, das sich den Weg nach oben suchte.
Dann begann sie zu lesen.
Liebe Frau Steinmann,
Ich weiß nicht, ob Sie das je lesen werden. Vielleicht landet dieser Brief im Ofen oder unter einem Tischbein. Aber ich schreibe ihn trotzdem.
Mein Name ist Erich Plenzdorf. Vielleicht kennen Sie mich nicht, aber ich kannte Sie.
Nicht persönlich. Aber ich habe Sie oft gesehen.
Durch das Fenster. Mit der Nähmaschine.
Es war mein Hund, der zuerst stehen blieb. Damals, vor zwei Wintern. Er roch etwas. Vielleicht Wärme. Vielleicht Erinnerung. Ich sah dann das Körbchen auf der Fensterbank. Und Sie dahinter. So still. So klar.
Ich dachte mir: Wenn ich eines Tages gehe, dann soll mein Hund zu jemandem, der Wärme nähen kann.
Ich bin krank, Frau Steinmann. Sehr. Die Ärzte haben gesagt, dass ich den nächsten Frühling nicht erleben werde.
Aber ich habe noch diesen Hund. Und ich kann ihn nicht mitnehmen.
Deshalb habe ich das Körbchen genommen. Und ihn hineingelegt. Und ihn zu Ihnen geschickt.
Er ist alles, was ich noch habe.
Und ich hoffe, dass er Ihnen gibt, was er mir gegeben hat: Stille Gesellschaft. Und den Mut, weiterzumachen, auch wenn es leise wird.
Ich danke Ihnen, dass Sie genäht haben. Für Fremde. Für Niemand. Für das Leben.
Ihr
Erich
Monika hatte längst aufgehört zu blinzeln.
Die Tränen liefen ihr über das Gesicht, tropften auf das Papier, machten die Tinte weich.
Sie legte die Blätter auf den Tisch, neben ihre Teetasse. Streichelte Kaspars Kopf. Seine Augen blickten sie an, dunkel und treu.
„Also warst du ein Geschenk“, flüsterte sie. „Ein letzter Gruß.“
In ihr wuchs ein Kummer, den sie nicht greifen konnte. Es war nicht nur der Verlust eines Mannes, den sie nie gekannt hatte. Es war die plötzliche Nähe zu jemandem, der gegangen war und doch etwas hinterlassen hatte, das lebte, atmete und zu ihren Füßen lag.
Anni kam am nächsten Morgen. Sie sah Monika an und wusste sofort, dass etwas anders war.
„Du hast nicht geschlafen.“
Monika reichte ihr wortlos den Brief.
Anni las. Langsam, Satz für Satz. Dann legte sie das Papier behutsam zurück auf den Tisch. Ihre Stimme war leise.
„Es ist das Schönste, was ich je gelesen habe.“
Monika nickte.
„Und das Schwerste.“
In den nächsten Tagen wurde Kaspar ruhiger.
Er schlief viel. Manchmal verweigerte er das Fressen. Ging nicht mehr mit zum Briefkasten. Lag nur da, den Blick auf den Himmel hinter dem Fenster gerichtet.
Monika versuchte, sich nicht verrückt zu machen. Vielleicht war es das Wetter. Vielleicht die Jahre.
Aber dann kam der Tag, an dem er nicht einmal mehr aufstand, als sie die Tür öffnete.
Da wusste sie es.
Sie rief die Tierärztin.
Es war eine junge Frau mit sanfter Stimme. Sie setzte sich auf den Boden, tastete Kaspars Bauch, sah in seine Augen, horchte lange auf sein Herz.
Dann richtete sie sich auf und sah Monika an.
„Er ist sehr alt. Und sein Körper gibt langsam auf.“
Monika nickte.
Sie hatte es gewusst.
Aber es aus dem Mund eines Fremden zu hören, war etwas anderes. Es war endgültig.
„Wie lange noch?“, fragte sie.
Die Ärztin zuckte leicht mit den Schultern.
„Vielleicht Wochen. Vielleicht Tage.“
Dann fügte sie hinzu:
„Aber er hat keine Schmerzen. Nicht jetzt. Noch nicht.“
Anni kam abends mit einer Wärmflasche und einem Kissen mit Lavendelduft.
„Für Kaspars Körbchen“, sagte sie.
Monika nahm es dankend an.
Sie legte sich mit Kaspar in den kleinen Raum hinter der Küche, wo es warm war und leise. Sie las ihm vor. Alte Briefe. Abschnitte aus einem Buch über Bäume. Ihre eigenen Gedanken aus dem Notizbuch.
Er bewegte sich kaum. Aber manchmal hob er den Kopf, als würde er lauschen.
Minna saß oft neben ihm, schnurrte leise.
Monika glaubte zu spüren, dass Kaspar sich vorbereitete. Auf den letzten Schlaf. Auf das Loslassen.
Sie selbst jedoch war nicht bereit.
In einer Nacht, als der Regen gegen die Scheiben trommelte, wurde sie wach.
Kaspar atmete schwer.
Sie tastete nach seiner Pfote. Kalt.
Aber seine Augen waren offen. Er sah sie an, lange, weich, so tief, dass sie meinte, darin etwas zu erkennen, das größer war als Worte.
Sie beugte sich vor, küsste seine Stirn.
„Du darfst gehen“, flüsterte sie.
Dann legte er den Kopf wieder ab.
Und blieb still.
Sie saß bis zum Morgen neben ihm.
Anni kam mit heißem Kaffee. Nahm ihre Hand. Sprach kein Wort.
Der Himmel wurde hell. Und als der erste Sonnenstrahl auf das Körbchen fiel, da wusste Monika, dass etwas vorbei war.
Aber auch: dass etwas geblieben war.
Sie wickelte Kaspar in ein altes Leinentuch. Legte ein Stück des Vorhangstoffs dazu. Und eine Notiz.
„Du warst geliebt.“
Anni half ihr, einen Platz im Garten des Tierheims zu finden. Unter einem alten Apfelbaum. Wo das Licht zwischen den Zweigen flimmerte.
Monika war still auf dem Rückweg.
Aber in ihrem Herzen sang eine leise Melodie.
Nicht traurig.
Nur wahr.
Am Abend nahm sie ihre Nadel wieder zur Hand.
Der Stoff lag bereit.
Dunkelblau. Mit kleinen weißen Punkten.
Sie nähte langsam. Bedächtig.
Jeder Stich eine Erinnerung.
Dann hörte sie ein leises Geräusch an der Tür.
Ein Kratzen. Zögerlich.
Sie schob sich mit dem Rollstuhl vor. Öffnete.
Und da stand ein kleiner, zerzauster Hund.
Nass vom Regen. Mit einem Band um den Hals, auf dem in Kinderschrift stand:
„Er friert. Aber er liebt Körbchen.“
Monika schloss die Tür und wusste, dass die Geschichte noch nicht zu Ende war.