🐾 Teil 9: Der letzte Schnee
Der kleine Hund zitterte wie ein welkes Blatt im Wind.
Monika ließ die Tür offenstehen, so lange, bis das Tier von selbst einen Schritt über die Schwelle wagte. Kein Drängen, kein Locken. Nur Wärme und Geduld.
Minna sprang vom Sessel, fauchte leise, dann verzog sie sich unter den Ofen. Der kleine Kerl sah ihr kurz nach, dann blickte er zu Monika auf – unsicher, aber ohne Angst.
Sein Fell war strohfarben, von Schlamm und Dreck verklebt. Die Ohren hingen schief. Seine Augen waren bernsteinfarben, mit einem Glanz darin, den Monika nur zu gut kannte. Es war der Blick eines Wesens, das zu viel erlebt hatte, um einfach zu vertrauen aber doch nicht aufgeben wollte.
Sie holte ein Handtuch, kniete sich neben ihn.
„Na, du kleiner Streuner. Wer hat dich denn losgeschickt?“
Der Hund ließ es zu, dass sie ihn trocknete. Kein Knurren, kein Zucken. Nur ein leises Seufzen, als sie den Bauch abtupfte.
Dann, als wäre es das Natürlichste der Welt, trottete er ins Wohnzimmer. Blieb vor dem leeren Körbchen stehen.
Kaspars Körbchen.
Er schnupperte daran. Setzte sich daneben. Und blickte zu ihr zurück.
Monika atmete tief ein.
„Du hast ihn gerochen, nicht wahr?“
Sie setzte sich in ihren Sessel, blickte hinaus. Der Himmel über dem Dorf war milchig. Die ersten Schneeflocken fielen. Ganz langsam, tanzend, als wollten sie niemanden erschrecken.
Später am Abend kam Anni vorbei.
„Ich wollte nur sehen, wie es dir geht“, sagte sie, trat ein – und erstarrte.
Der Hund lag zusammengerollt im Körbchen.
„Oh. Wer ist das denn?“
Monika erzählte ihr von dem Band um den Hals. Von der Kinderschrift.
Anni beugte sich vor, las es selbst.
„Er friert. Aber er liebt Körbchen.“
Dann sagte sie:
„Vielleicht war das Kind auch einmal hier. Vielleicht hat es sich erinnert.“
Monika nickte.
„Oder jemand hat davon erzählt.“
Sie gaben dem kleinen Hund einen Namen.
Nicht sofort. Erst nach zwei Tagen.
Er blieb, als hätte er nie woanders gelebt. Frass gierig, schlief lang, bellte nicht.
Er wachte nachts auf, wenn Monika hustete. Legte den Kopf auf ihre Decke, wartete, bis sie wieder ruhig atmete.
Sie nannte ihn Muck.
Weil er klein war, weich, und manchmal einfach so vor sich hin brummelte.
Muck gewöhnte sich an Minna. Die Katze ließ sich Zeit, aber irgendwann lag sie wieder auf dem Fensterbrett – und Muck zu ihren Füßen.
Die Wohnung füllte sich wieder mit Leben. Nicht lautem, sondern dem leisen, warmen Leben, das sich nur einstellt, wenn niemand etwas beweisen muss.
Der Winter kam schnell.
Monika nähte weiter. Körbchen, Decken, kleine Westen für Hunde mit Arthrose. Lena half ihr, eine kleine Website einzurichten: Herzensnähte. Anni machte Fotos.
Die Bestellungen kamen aus dem ganzen Land.
Aber es war nicht das, was Monika zählte.
Es war das Schreiben auf den kleinen Zetteln, die oft beilagen.
„Für Emil. Er ist fast blind, aber noch voller Mut.“
„Für Lotte. Sie wurde geschlagen, aber liebt Menschen trotzdem.“
„Für Balou. Er ist unser Trost nach dem Tod unserer Tochter.“
Jedes Körbchen wurde für jemanden genäht. Für ein Wesen mit Geschichte.
Und Monika war nicht mehr nur Schneiderin.
Sie war Zuhörerin. Bewahrerin. Fadenhalterin zwischen Herzen.
An einem Nachmittag kurz vor Weihnachten saß sie mit Lena bei Tee und Plätzchen.
Der Ofen knisterte.
Draußen fiel Schnee, langsam und gleichmäßig.
Muck lag im neuen Körbchen, das Monika für ihn gemacht hatte. Es war aus rot-grauem Wollstoff, mit einem Kissen in Herzform.
Lena hatte die Stickerei darauf entworfen:
„Zuhause ist, wo jemand auf dich wartet.“
„Weißt du“, sagte Monika, „manchmal denke ich, Kaspar hat ihn geschickt.“
Lena nickte nur.
„Vielleicht hat er’s wirklich.“
In dieser Nacht träumte Monika.
Sie ging durch einen Garten. Nicht irgendeinen – es war der Garten hinter dem alten Tierheim. Der Apfelbaum stand da, wie immer, aber in voller Blüte. Frühling.
Kaspar saß darunter. Nicht alt, nicht müde. Jung und stolz, wie ein König.
Neben ihm: ein Mann mit grauem Bart und warmen Augen.
„Danke“, sagte er, ohne die Lippen zu bewegen.
Monika lächelte.
„Wofür?“
„Dass du ihn genommen hast. Dass du nie aufgehört hast.“
Dann drehte sich Kaspar um, bellte einmal, kurz, hell. Der Mann winkte.
Und sie verschwanden in einem Licht, das nicht blendete, sondern umarmte.
Monika wachte auf mit einem Lächeln im Gesicht.
Sie wusste, dass es nur ein Traum war.
Aber sie wusste auch, dass Träume manchmal mehr Wahrheit enthalten als der Tag.
Am Morgen stand ein Mädchen vor ihrer Tür.
Nicht älter als acht. Mit Zöpfen und einer dicken Jacke.
In der Hand ein kleiner Briefumschlag.
„Sind Sie die Frau mit den Körbchen?“, fragte sie.
Monika nickte.
„Ich bin Marie. Muck war mein Hund. Aber Papa hat gesagt, wir dürfen ihn nicht behalten. Weil er keine Zeit hat. Aber ich hab gesehen, wie Sie genäht haben. Durch das Fenster.“
Monika schluckte.
„Also hast du ihn gebracht?“
Marie nickte, die Augen groß.
„Ich wollte nur wissen, ob’s ihm gut geht.“
Muck kam aus dem Wohnzimmer. Sah Marie. Schwanzwedeln. Kein Bellen.
Er ging zu ihr, legte sich hin, ließ sich streicheln.
Marie lachte und weinte gleichzeitig.
Monika holte eine zweite Tasse.
Sie tranken Kakao.
Dann sagte Marie:
„Darf ich manchmal kommen? Nur ein bisschen. Lesen oder helfen.“
Monika nahm ihre Hand.
„Du bist jederzeit willkommen.“
Anni kam später.
„Ich hab gehört, ihr habt Nachwuchs“, sagte sie.
„Im doppelten Sinn“, antwortete Monika.
Und als der Abend dämmerte, saßen sie zu dritt am Fenster.
Muck in der Mitte. Minna auf dem Rand.
Und draußen fielen die ersten dicken Flocken.
Der letzte Schnee des Jahres.
Und irgendwo zwischen Kakao, Körbchen und Kinderlachen begann ein neues Kapitel leise, aber unaufhaltsam.