🐾 Teil 10: Ein neues Körbchen
Die Tage zwischen den Jahren waren stiller als sonst.
Der Schnee blieb liegen, dick und weiß wie ein Teppich, der alles Vergangene zudecken wollte. Die Straße vor Monikas Fenster war leer. Kein Lieferwagen, kein Bellen. Nur ab und zu ein knirschender Schritt, wenn jemand den Weg zum Bäcker wagte.
Im Wohnzimmer brannte der Ofen. Auf dem alten Holztisch stand ein Teller mit selbstgebackenen Zimtsternen. Marie hatte sie gebracht, in einer Dose mit blauen Sternen drauf.
Muck schlief in seinem Körbchen. Minna lag auf der Fensterbank und tat so, als würde sie alles ignorieren, obwohl sie doch jedes leise Geräusch mit halboffenen Augen verfolgte.
Monika saß an ihrer Nähmaschine. Nicht für einen Auftrag. Nicht für das Tierheim.
Sie nähte, weil sie es fühlte.
Es war ein kleiner, runder Korb. Aus hellem Leinenstoff, mit einem Innenfutter aus altem Flanell. Die Nähte sauber, von Hand verstärkt. Und in die Mitte hatte sie etwas gestickt. Nicht mit roten Fäden. Diesmal mit einem warmen Braunton.
„Für dich.“
Sie wusste noch nicht, wer „du“ war. Nur, dass es jemanden geben würde. Irgendwann. Irgendwo. Denn jedes Körbchen hatte sein Tier. Seine Geschichte. Seinen Platz.
Am Silvestertag kam Anni mit einem Holzrahmen vorbei.
„Ich hab’s drucken lassen“, sagte sie und stellte es vorsichtig ab.
Monika beugte sich vor.
Es war ein Bild. Oder besser gesagt, eine Collage.
Oben das Foto von Kaspar im alten Körbchen. Daneben Muck, mit schiefem Ohr und wachem Blick. Unten das gestickte Logo: Herzensnähte. Und dazwischen, mit schwungvoller Schrift:
„Jedes Körbchen hat eine Geschichte.“
Monika schluckte.
„Ich weiß nicht, ob ich das verdient habe.“
Anni lächelte.
„Doch. Und wenn nicht du, wer dann?“
Sie hängten es über den Sessel, direkt neben dem Fenster.
Von dort konnte jeder sehen, der vorbeiging.
Marie kam an Neujahr. Mit einem Buch unter dem Arm.
„Ich les es dir vor“, sagte sie, ganz selbstverständlich, und machte es sich auf dem Teppich gemütlich.
Muck legte den Kopf auf ihren Schoß. Minna sprang auf die Lehne des Sessels, rollte sich ein.
Es war ein Buch über einen Hund, der ein Zuhause suchte. Und es irgendwann fand. Natürlich.
Monika hörte zu, strickte langsam, und dachte an all die Körbchen, die sie gemacht hatte. Daran, wie jedes Stück Stoff, jeder Faden, etwas heilte – nicht nur für Tiere, sondern auch in ihr selbst.
Im Februar kam ein Brief.
Keine E-Mail, kein Formular. Ein echter Brief, handgeschrieben, auf Papier mit leichtem Vanilleduft.
„Liebe Frau Steinmann,
mein Name ist Paul Schrader. Ich bin Tierpfleger im Ruhestand. Vor Jahren kannte ich einen Mann namens Walter Engelhardt. Er sprach oft von einer Frau, die die schönsten Körbchen nähte. Vor Kurzem habe ich in einer Zeitung von Ihrer Arbeit gelesen. Und da wusste ich, dass es nur Sie sein konnten.
Walter hat in seinen letzten Wochen oft gesagt: ‘Wenn ich gehe, soll wenigstens mein Hund in Händen sterben, die Wärme kennen.’
Er meinte Ihren Schoß.
Danke, dass Sie das möglich gemacht haben.
In großer Dankbarkeit,
Paul Schrader“
Monika legte den Brief auf ihren Schoß. Las ihn ein zweites Mal. Dann ein drittes.
Es war, als schlösse sich ein Kreis. Als hätte das, was sie aus Trauer begonnen hatte, seinen Platz in der Welt gefunden.
Im Frühling begann sie wieder mehr zu nähen.
Marie hatte eine Idee: Körbchen mit Namen. Eingestickt. Für Geburtstagsgeschenke, Erinnerungen, als Dankeschön.
„Man könnte auch die Geschichten dazulegen“, sagte sie. „So ein kleiner Zettel. Nur ein paar Zeilen.“
Und so begann ein neues Kapitel.
Nicht nur ein Körbchen. Sondern ein Stück Erinnerung.
Im Mai kam ein Päckchen aus Österreich.
Darin war ein Foto. Ein alter Schäferhund, mit einer Decke über den Pfoten, in einem der Körbchen von Monika.
Hinten stand:
„Liebste Grüße von Leo und seinen Menschen. Er schläft darin wie ein König.“
Und ein zweiter Satz:
„Er war unser erstes Pflegekind. Aber nicht unser letztes.“
Monika stellte das Foto auf die Fensterbank. Daneben das von Kaspar. Und das von Muck.
Im Sommer wurde das kleine Wohnzimmer zu einem Treffpunkt.
Nicht offiziell. Kein Schild an der Tür. Aber die Leute kamen.
Anni brachte Wolle. Lena half beim Fotografieren. Marie las Geschichten vor. Und manchmal stand da jemand im Flur mit Tränen in den Augen, weil er einfach nur ein bisschen Wärme brauchte.
Manche kamen mit Hund, andere ohne.
Aber jeder ging mit einem Gefühl nach Hause:
Dass es da einen Ort gab, an dem alles zählte. Auch das, was man verloren hatte.
An einem Sonntag im August stand wieder ein Körbchen vor dem Fenster.
Nicht leer.
Darin ein Kätzchen. Winzig. Grau-weiß. Mit großen Augen.
Und ein Zettel.
„Sie haben mir Hoffnung gegeben. Ich habe es nicht geschafft, es zu behalten. Aber ich weiß, bei Ihnen ist es sicher.“
Monika hob es vorsichtig hoch.
„Na, mein Kleines“, flüsterte sie. „Dann fangen wir wohl wieder von vorn an.“
Am Abend saß sie wieder am Fenster. Muck schnarchte leise. Minna hatte das Kätzchen akzeptiert – widerwillig, aber ohne Fauchen.
Marie war noch da. Sie schrieb einen kleinen Text für das neue Körbchen.
Draußen färbte sich der Himmel rot.
Ein letzter Sonnenstrahl fiel durch das Fenster, traf den Stickrahmen über dem Sessel.
Und Monika dachte:
Vielleicht hatte das Leben doch einen Faden. Manchmal verheddert. Manchmal gerissen. Aber immer da.
Manchmal braucht es nur ein Körbchen und ein Herz, das offen bleibt.