Teil 6: Die Frau mit dem Lavendelduft
Der Herbst kam früh in diesem Jahr.
Maria legte jeden Morgen das Heizkissen auf Bandits Platz, ehe sie die Kaffeemaschine anstellte.
Er schien es zu mögen – die Wärme, das Knistern des Stoffs, das leise Summen.
Ein alter Körper sucht sich seine Inseln. Das wusste sie nur zu gut.
Sie war gerade dabei, das Frühstücksgeschirr wegzuräumen, als es an der Tür klingelte.
Zwei Mal.
Langsam.
Nicht wie Post oder Nachbarn.
Sie öffnete.
Vor ihr stand eine Frau.
Vielleicht Mitte vierzig, gepflegt, leicht gebräunt, dunkler Mantel, roter Schal.
Sie trug einen Leinenbeutel, aus dem der Duft von Lavendel stieg – scharf, ehrlich, irgendwie unmodern.
„Frau Hinrichs?“
Maria nickte.
„Mein Name ist Vera Schröder. Ich komme aus Celle.
Sie haben… Sie haben einen Hund bei sich. Einen schwarzen Mischling. Vom Tierheim Hannover.“
Maria spürte, wie ihre Hände feucht wurden.
Hinter ihr stand Bandit im Flur, die Ohren steil, der Blick fest auf die Frau gerichtet.
„Ja“, sagte Maria vorsichtig. „Bandit. Er lebt jetzt hier.“
Vera Schröder trat nicht näher.
Ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen.
„Er war früher meiner Mutter. Wir haben ihn verloren. Oder… besser gesagt, wir haben ihn gehen lassen.“
Sie tranken Tee am Küchentisch.
Bandit blieb an der Schwelle stehen. Kein Schritt weiter. Kein Knurren. Aber auch kein Vertrauen.
„Meine Mutter ist vor acht Monaten gestorben“, begann Vera.
„Sie hatte ihn aus einer Notlage geholt. Damals war er nur Haut und Knochen.
Sie nannte ihn Benno. Sie hat ihn aufgepäppelt, bei sich schlafen lassen, mit ihm geredet wie mit einem Menschen.“
Maria sagte nichts.
„Aber dann wurde sie krank. Erst schleichend, dann schnell. Lunge.
Sie kam ins Hospiz. Ich konnte ihn nicht mitnehmen – mein Job, die Wohnung…
Ich hab ihn ins Tierheim gebracht. Ich dachte, es wäre besser so.“
Sie legte eine Hand auf die Tasse.
„Aber ich hab ihn nicht vergessen. Ich hab gesucht. Immer wieder angerufen. Aber niemand wusste, wohin er kam.
Und dann… hat mir jemand erzählt, dass eine ältere Dame aus Hildesheim ihn vielleicht aufgenommen hat.“
Maria betrachtete die Frau lange.
Dann sagte sie leise: „Er heißt jetzt Bandit. Und er gehört niemandem. Nur sich selbst.“
Vera nickte.
„Darf ich… ihn ansprechen?“
Maria sah zu Bandit.
Er stand noch immer da.
Reglos.
Aber seine Augen – sie waren verändert.
Nicht ängstlich. Nicht feindlich.
Fragend.
„Du darfst“, sagte Maria.
„Benno?“, sagte Vera vorsichtig.
Der Name hing in der Luft wie ein altes Parfüm.
Bandit zuckte.
Ein kaum sichtbares Zittern ging durch seinen Körper.
Dann senkte er den Kopf.
„Benno, mein Lieber… weißt du noch? Wie wir immer den Weg zur Bäckerei gegangen sind?
Und du hast dich vor jedem Gullydeckel erschreckt.“
Sein Schwanz bewegte sich.
Ganz leicht.
Ein einziger Schlag.
Vera stand auf.
Tat zwei Schritte.
Kniete sich hin.
„Ich hab dich nicht vergessen.“
Bandit ging langsam auf sie zu.
Zögernd.
Dann legte er seine Nase an ihre Hand.
Nur kurz.
Dann ging er zurück.
Setzte sich neben Maria.
In der Stille, die folgte, verstand Maria etwas.
Nicht mit dem Kopf. Mit dem Herzen.
Der Hund hatte nicht sie gewählt.
Nicht Vera.
Nicht irgendwen.
Er hatte überlebt.
Er hatte sich an Menschen erinnert – und trotzdem weitergeliebt.
Das war mehr, als viele Menschen konnten.
„Er sieht gut aus“, flüsterte Vera. „Gesünder als je zuvor.“
Maria nickte.
„Er hat ein eigenes Kissen. Und einen eigenen Rhythmus. Ich zwing ihn zu nichts.“
Vera trank ihren Tee aus.
Sie stand langsam auf.
„Ich wollte nur wissen, ob es ihm gut geht. Jetzt weiß ich es.“
Sie ging zur Tür.
Bandit begleitete sie nicht.
Aber er sah ihr nach.
Kurz bevor sie hinausging, sagte sie noch:
„Danke, Frau Hinrichs. Dass Sie ihn nicht gefragt haben, woher er kam. Sondern einfach da waren.“
Maria schloss die Tür.
Lehnte sich dagegen.
Ihre Knie waren weich, als wären sie gelaufen.
Bandit kam langsam zu ihr.
Er sah sie an.
Dann legte er den Kopf an ihre Hüfte.
Sie ließ eine Hand in sein Fell sinken.
„Manchmal“, sagte sie leise, „kommt die Vergangenheit zu Besuch.
Aber sie darf nicht bleiben. Nicht ganz.“
In den Tagen danach war Bandit ruhiger.
Als hätte das Gespräch mit Vera ein Kapitel abgeschlossen.
Er schlief tiefer.
Fraß besser.
Und bellte einmal sogar den Staubsauger an – ein echtes Bellen, laut, selbstsicher.
Maria erschrak.
Dann lachte sie.
„Na endlich. Jetzt bist du angekommen.“
An einem Sonntag, als der Wind durch die Ebereschen pfiff und die Blätter in kleinen Spiralen tanzten, holte Maria die rote Schleife aus der Schublade.
Sie legte sie auf den Tisch.
Bandit schnupperte daran.
Dann sah er sie an – direkt, unerschrocken.
Maria befestigte sie locker an seinem Hals.
Nicht eng. Nur symbolisch.
„Du musst sie nicht tragen“, sagte sie. „Aber ich wollte, dass du weißt, dass sie auch dir gehört.“
Er ließ es zu.
Ging dann langsam zur Tür, blieb stehen.
Maria verstand.
Sie holte die Leine.
Aber er setzte sich hin und wartete.
Sie öffnete die Tür.
Und zum ersten Mal ging Bandit von allein in den Garten.
Ohne Angst. Ohne zu zittern.
Nur mit der Schleife im Wind.