Das letzte Geschenk von Otto | Sie dachte, sie bekommt nur einen Hund – doch was er ihr schenkte, veränderte alles

Teil 7: Als das Herz langsamer wurde

Der erste Schwindel kam beim Aufstehen.
Maria wollte nur die Kaffeedose greifen, doch plötzlich schwankte der Boden unter ihr.
Sie stützte sich am Tisch ab, wartete, bis der Raum sich beruhigte.

„Zu schnell aufgestanden“, murmelte sie.
Aber es blieb nicht bei diesem einen Mal.

In den Tagen darauf wurde der Weg zur Mülltonne mühsam.
Die Treppenstufen knackten lauter.
Ihr Atem war kurz, wie nach einem langen Winterlauf – nur, dass sie kaum einen Schritt gemacht hatte.

Bandit schien es zu spüren.
Er wich nicht von ihrer Seite, beobachtete jede Bewegung mit stiller Wachsamkeit.
Er sprang nicht mehr voraus beim Spaziergang.
Er blieb immer einen halben Schritt hinter ihr, als wolle er notfalls auffangen, was die Zeit ihr nahm.


An einem Dienstag, der Himmel war schwer von Regen, rief Maria Lena an.

„Ich glaub, ich bin nur müde“, sagte sie.
„Aber es ist eine andere Müdigkeit. So eine, die man nicht ausschläft.“

Lena hörte still zu.
Dann sagte sie: „Ich komme.“

Zwei Stunden später war sie da, mit ihren Turnschuhen, der zerzausten Jacke und der Art, den Raum heller zu machen, ohne etwas zu sagen.

„Wir gehen zum Arzt“, sagte sie.
Maria wollte widersprechen, doch ihr Körper ließ keinen Platz für Eitelkeit.


Dr. Weigand war ein alter Bekannter.
Er hatte Maria schon behandelt, als Lena noch ein Kind war.
Er hörte sie ab, maß Blutdruck, machte ein EKG.

Dann lehnte er sich zurück.
Er sprach ruhig, aber ernst.

„Ihr Herz arbeitet nicht mehr so, wie es soll. Vorhofflimmern.
Das erklärt die Müdigkeit, den Schwindel, die Atemnot.“

Maria sah ihn an.
„Ist es gefährlich?“

„Nicht sofort. Aber unbehandelt – ja.
Wir brauchen Medikamente. Und wir müssen Sie im Blick behalten.“


Zuhause war es still.
Maria saß auf dem Sofa, Bandit zu ihren Füßen.
Lena räumte leise die Küche auf.

„Es ist nicht dramatisch“, sagte Maria.
„Nur… eine Erinnerung. Dass ich keine vierzig mehr bin.“

Bandit hob den Kopf.
Seine Augen ruhten lange auf ihrem Gesicht.
Dann legte er den Kopf auf ihren Oberschenkel.
Kein Geräusch. Kein Schwanzwedeln.
Nur Nähe.


In der Nacht konnte sie nicht schlafen.
Sie dachte an Otto.
An den Tag, an dem er das erste Mal gekrümmt ging, sich an die Wand stützte, aber trotzdem weiter das Frühstück bereitete.

Er hatte gewusst, dass es zu Ende ging.
Aber er hatte nicht aufgegeben.
Er hatte vorbereitet. Aufgeräumt. Geliebt.

Maria stand auf.
Ging ins Wohnzimmer.
Bandit folgte ihr.

Sie setzte sich an den Küchentisch, zog ein altes Schulheft aus der Schublade.
Darin waren die letzten Briefe von Otto eingeklebt.
Erinnerungen. Anweisungen.
Ein Rezept für Milchreis.
Ein Gedicht.

Und am Ende ein leerer Zettel.

Sie nahm einen Stift.
Schrieb:

Für später. Wenn ich mal nicht mehr kann. Für Bandit.


Am nächsten Tag rief sie im Tierheim an.
Sprach mit der gleichen jungen Frau wie damals.

„Ich brauche keinen neuen Hund“, sagte sie.
„Aber vielleicht braucht jemand bald meinen.“

Die Frau verstand sofort.
„Wir können helfen. Es gibt Pflegefamilien, auch Senioren, die keine eigenen Tiere mehr nehmen wollen – aber bereit sind für Übergänge.“

Maria notierte eine Telefonnummer.
Dann lehnte sie sich zurück.
Sie war müde. Aber nicht mehr hilflos.


Lena brachte ihr später einen Ordner.
„Das ist eine Patientenverfügung. Ich hab eine Vorlage vom Hospiznetz.“

Maria überflog die Seiten.
Kreuzte an, strich durch.
Blieb dann bei einem Absatz hängen: Versorgung von Haustieren im Notfall.

Sie schrieb:

Bandit darf nicht zurück ins Heim. Er soll dorthin, wo Menschen schweigen können, ohne dass es kalt wird.

Lena sah sie an.
„Du denkst an alles.“

„Ich war Lehrerin, Kind. Ich hab immer an alles gedacht. Außer an mich.“


Trotz der Diagnose wollte Maria weiter spazieren gehen.
Kurze Strecken.
Langsam.
Mit Stock.

Bandit passte sich an.
Wie ein Schatten, der atmet.

Einmal begegneten sie einer alten Bekannten. Frau Krause aus der Chorgruppe.
Sie sagte: „Der Hund ist wie dein zweiter Rücken.
Und du… du wirkst, als würdest du für jemanden mitlaufen.“

Maria lächelte.
„Vielleicht lauf ich auch schon ein Stück vor.“


Im November wurde es schlimmer.
Einmal sackte Maria im Garten einfach zusammen.
Lena war zufällig da – sonst hätte niemand es bemerkt.

Der Krankenwagen kam leise.
Bandit ließ die Sanitäter nicht ins Haus, bis Lena ihn beruhigte.

Maria musste zwei Tage bleiben.
Herzmedikamente, Blutverdünner, Beobachtung.

Als sie zurückkam, war Bandit verändert.

Er wich ihr nicht mehr von der Seite.
Er schlief nicht – er bewachte.


In der Nacht nach ihrer Rückkehr saßen sie gemeinsam im Wohnzimmer.
Das Feuer im Kamin knisterte leise.

Maria legte die Hand auf sein Fell.

„Ich werde nicht ewig da sein“, sagte sie.
„Aber ich hoffe, ich war genug.“

Bandit hob den Kopf.
Er sah sie lange an.
Dann legte er sich so, dass sein Herz an ihrem Knie schlug.

Maria spürte jeden Schlag.
Als wäre da ein zweites Leben, das sie mittrug.

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