Teil 8: Schnee auf dem Briefumschlag
Der Schnee kam über Nacht.
Kein leises Rieseln, sondern ein ganzer Vorhang aus Weiß.
Maria wachte früh auf, die Scheiben waren beschlagen, der Garten unter einer dicken Decke verschwunden.
Bandit saß schon wach an der Tür, als hätte er gewusst, dass dieser Tag anders werden würde.
Maria zog ihren alten Wintermantel über, schob sich langsam in die Stiefel.
Sie ließ die Haustür einen Spalt offen, damit Bandit den ersten Schritt machen konnte.
Er zögerte nicht.
Er sprang mit beiden Vorderpfoten in den frischen Schnee, schnupperte, bellte einmal. Laut. Frei.
Maria lächelte.
„Vielleicht ist das dein erster richtiger Winter.“
Der Brief kam mit der Mittagslieferung – zwischen Apfelsinen, einer Tüte Mehl und einem Glas Rote-Bete-Salat.
Der Fahrer der Sozialstation sagte: „Heute lag er auf der Treppe. War ganz mit Schnee bedeckt.“
Maria nahm den Umschlag in die Hand.
Kein Absender. Nur ihr Name, von Hand geschrieben.
Die Schrift war fest, leicht schräg, männlich.
Sie öffnete ihn nicht sofort.
Sie legte ihn auf den Tisch, kochte Tee, schob ein Stück Holz in den Ofen.
Dann erst setzte sie sich, faltete die Lesebrille auf, nahm den Brief in die Hand.
Sehr geehrte Frau Hinrichs,
mein Name ist Sebastian Lohe. Ich bin Tierarzt im Ruhestand. Ich war der Erstbesitzer von „Bandit“. Damals hieß er noch Paul.
Ich habe ihn als Welpe gerettet, aus einem verlassenen Schuppen in der Nähe von Magdeburg.
Ich hatte ihn fast drei Jahre. Dann… dann kam ein Schlaganfall. Ich konnte mich nicht mehr kümmern.
Ich brachte ihn schweren Herzens in die Obhut eines Kollegen. Von dort ging er weiter – ich weiß nicht genau wohin.
Aber ich habe ihn nie vergessen. Ich habe seine Augen auf einem Foto erkannt, das mir jemand in einem Tierschutzforum zeigte.
Man sagte mir, er lebe jetzt bei Ihnen. Dass Sie ihn aufgenommen haben, obwohl Sie selbst nicht mehr ganz gesund sind.
Ich schreibe Ihnen nicht, um ihn zurückzufordern. Ich schreibe Ihnen, um Danke zu sagen.
Dass Sie sich seiner angenommen haben. Dass Sie ihn sehen – wirklich sehen.
Und falls… falls es einmal so weit ist, dass Sie selbst nicht mehr für ihn sorgen können:
Ich bin alt, ja. Aber ich bin bereit. Ich würde ihn wieder aufnehmen. Für seine letzte Strecke.
Mit stillem Gruß
Dr. med. vet. Sebastian Lohe
Maria las den Brief zweimal.
Dann faltete sie ihn sorgfältig zusammen.
Ihr Atem war ruhig, aber etwas in ihrer Brust zog sich zusammen – nicht vor Angst.
Vor Rührung.
Sie ging zu Bandit, der auf dem Teppich lag und die Sonne im Fell hatte.
Setzte sich zu ihm, strich ihm über die Schulter.
„Du hast drei Namen getragen, mein Junge. Drei Leben. Drei Menschen.“
Er drehte leicht den Kopf, als hätte er verstanden.
Dann leckte er ihre Finger. Langsam.
Ohne Eile.
Am Abend schrieb sie einen Brief zurück.
Mit Füller, auf Briefpapier mit Randornament.
Sehr geehrter Herr Dr. Lohe,
danke, dass Sie sich gemeldet haben. Ihr Brief kam zu einer stillen Stunde – und hat dennoch Lärm gemacht in mir.
Ich kann Ihnen nicht sagen, was Bandit für mich bedeutet. Aber ich kann sagen: Er gehört nicht mir. Er gehört dem Leben.
Wenn meine Schritte einmal langsamer werden als seine, werde ich an Sie denken. Vielleicht gehen wir dann alle drei ein Stück gemeinsam.
In Dankbarkeit – Maria Hinrichs
Sie legte den Umschlag in den Flur.
Lena würde ihn am Wochenende zur Post bringen.
Drei Tage später bekam Maria Fieber.
Nicht hoch – aber konstant.
Sie hustete, konnte nicht richtig essen, verlor rasch an Kraft.
Bandit wich nicht von ihrer Seite.
Wenn sie einschlief, hörte sie sein Atmen – ruhig, wie ein Pendel in einem alten Haus.
Immer gleichmäßig. Immer nah.
Lena bestand auf einem Arztbesuch.
Der Hausbesuch kam am Montag.
Der junge Arzt sah besorgt aus, verschrieb Antibiotika, empfahl Bettruhe, viel Flüssigkeit.
Maria nickte.
Aber innerlich wusste sie, dass es nicht nur eine Infektion war.
Ihr Körper war müde.
Nicht nur die Lunge. Alles.
An einem stillen Nachmittag, als das Licht wie Watte durch die Gardinen fiel, nahm sie die rote Schleife vom Kaminsims.
Sie legte sie in eine kleine Holzkiste. Daneben das Foto von Otto. Und den Brief von Dr. Lohe.
Sie schrieb auf einen Zettel:
Für später.
Wenn ich nicht mehr fragen kann.
Bandit gehört zu denen, die wir nicht behalten dürfen, aber nie verlieren.
Sie klebte den Zettel an die Kiste.
Und stellte sie in die oberste Schublade des Wohnzimmerschranks.
Am Abend aß sie ein paar Löffel Suppe.
Bandit legte sich auf ihre Füße, wie immer.
Aber diesmal war sein Kopf schwerer.
Sein Blick tiefer.
„Du spürst es, nicht wahr?“, flüsterte sie.
Er hob nicht den Kopf.
Aber er atmete anders. Ruhiger.
Als wäre er bereit zu warten, solange es eben nötig war.
In der Nacht regnete es auf den Schnee.
Das Dach knackte unter der Last.
Und irgendwo im Haus summte ein alter Radiowecker – ohne Sender, nur als Echo vergangener Jahre.
Maria lag wach.
Ihre Hände waren kalt. Ihre Gedanken klar.
Sie dachte nicht an das, was fehlte.
Sondern an das, was geblieben war.
Otto. Lena.
Bandit.
Und die Stimme in ihr, die sagte: Du hast genug geliebt. Und du wurdest geliebt.