Teil 9: Als der Morgen ohne sie begann
Bandit stand an der Tür.
Reglos.
Kein Bellen. Kein Jaulen. Nur dieser Blick.
Der Raum war still.
Das Feuer im Kamin war ausgegangen.
Die Tasse auf dem Tisch war unberührt, der Tee längst kalt geworden.
Maria lag auf dem Sofa.
Eine Decke über den Beinen, die Hände gefaltet, der Kopf leicht zur Seite geneigt.
Sie atmete nicht mehr.
Und doch wirkte sie nicht verlassen.
Sie sah aus, als hätte sie einfach… aufgehört zu warten.
Nicht aus Trauer, sondern aus Vollendung.
Lena kam um acht.
Wie immer samstags.
Sie hatte Brötchen dabei, Marmelade, einen Brief von der Krankenkasse, den sie mit Maria durchgehen wollte.
Als sie die Tür öffnete, kam ihr Stille entgegen.
Nicht die Alltagsstille.
Eine andere – dichter, schwerer, endgültiger.
„Oma?“
Keine Antwort.
Dann sah sie Bandit.
Er stand am Türrahmen, wie ein Denkmal.
Sein Kopf bewegte sich nicht, aber seine Augen waren klar, wach – und traurig.
Lena ging langsam ins Wohnzimmer.
Sie wusste es, bevor sie es sah.
Ein Ton trat aus ihrer Kehle, den sie nie zuvor gemacht hatte.
Kein Schrei. Kein Schluchzen.
Nur der Klang eines Herzens, das begreift, dass eine Welt aufgehört hat.
Die Ärztin vom Bereitschaftsdienst kam gegen neun.
Freundlich, sachlich, mit warmem Ton.
„Herzversagen im Schlaf. Wahrscheinlich friedlich.
Keine Anzeichen von Stress oder Schmerz.“
Lena nickte.
Sie konnte nicht sprechen.
Sie saß bei Maria, hielt ihre kalte Hand, streichelte sie wie ein Kind eine zerbrochene Puppe.
Bandit lag daneben.
Sein Kopf ruhte auf Marias Fuß.
Er hatte sich nicht bewegt, seit sie eingetreten war.
Am Nachmittag holten sie den Körper ab.
Zwei Männer, höflich, leise.
Sie fragten, ob es ein Lied gebe, das Maria mochte.
Lena überlegte.
Dann sagte sie: „‚Abendlied‘. Von Matthias Claudius.
Das hat sie mir früher vorgesungen, wenn ich nicht einschlafen konnte.“
Sie spielten es vom Handy ab, ganz leise.
Der Sarg wurde hinausgetragen.
Bandit folgte nicht.
Er blieb im Flur sitzen, die Ohren gesenkt.
Er wusste.
Zwei Tage später fand Lena die Holzkiste in der Schublade.
Darin: die rote Schleife, das Foto, der Brief von Dr. Lohe – und der Zettel.
Für später.
Wenn ich nicht mehr fragen kann.
Bandit gehört zu denen, die wir nicht behalten dürfen, aber nie verlieren.
Lena weinte lange, aber leise.
Dann nahm sie den Zettel, den Brief, und schrieb noch am selben Abend:
Sehr geehrter Dr. Lohe,
meine Großmutter ist am 5. Dezember friedlich eingeschlafen.
Sie hat Ihnen vertraut – und Bandit auch.
Wenn Sie noch bereit sind… ich glaube, jetzt ist „später“.
Drei Tage später hielt ein dunkelblauer Golf vor dem Haus.
Ein Mann stieg aus.
Schlank, alt, aber aufrecht. Mit Stock, grauem Mantel, Brille.
Dr. Sebastian Lohe.
Er trug einen Leinenrucksack und einen ruhigen Blick.
Lena öffnete die Tür.
Bandit stand dahinter.
Er kam nicht sofort.
Er roch. Prüfte. Schaute.
Dann trat er vor.
Dr. Lohe kniete sich langsam hin.
„Hallo, Paul.“
Bandits Körper zuckte.
Ein Geräusch entkam seiner Kehle – kein Bellen, kein Winseln.
Etwas dazwischen.
Dann leckte er über die alte Hand.
Dr. Lohe blieb über Nacht.
Lena bereitete das Gästezimmer, kochte Tee, stellte Marias Lieblingsplätzchen auf den Tisch.
Sie saßen lange beisammen.
Er erzählte vom Schuppen bei Magdeburg.
Von Pauls erster Nacht in einer Schuhschachtel.
Von der Zeit im Rollstuhl, als der Hund ihm die Zeitung brachte.
„Ich habe viel verloren in meinem Leben“, sagte er.
„Aber dieser Hund hat mir damals beigebracht, dass Liebe nicht endet. Sie verändert nur ihr Gesicht.“
Lena nickte.
Sie verstand.
Am nächsten Morgen fuhr Dr. Lohe mit Bandit im Auto zurück nach Celle.
Er hatte alles vorbereitet.
Ein Bett, Futter, einen Garten mit Apfelbaum.
Bandit stieg ein, ohne Leine, ohne Zwang.
Er schaute einmal zurück.
Dann legte er sich auf die Rückbank, den Kopf auf die Decke, in der Maria ihn früher eingewickelt hatte.
Lena stand lange am Tor.
Der Wagen verschwand im Nebel.
Sie spürte keinen Schmerz.
Nur Stille. Und ein leiser Frieden.