Teil 10: Das letzte Geschenk
Der Winter verging in Stille.
In Celle blühten Ende Februar die ersten Krokusse im Garten von Dr. Lohe.
Bandit, nun wieder „Paul“ genannt, lag oft in der Sonne, das graue Kinn auf den Vorderpfoten, die Augen halb geschlossen.
Er war älter geworden.
Und ruhiger.
Aber nicht weniger wach.
Jeden Morgen gingen er und der alte Tierarzt eine kleine Runde durch das Viertel.
Langsam, nebeneinander.
Zwei Gestalten, die die Zeit nicht mehr zu messen schienen.
Sie waren nicht auf der Suche.
Sie begleiteten sich einfach – Stück für Stück.
Lena schrieb regelmäßig.
Sie schickte Bilder aus Leipzig, von der Uni, von ihren Laborversuchen, von der Katze ihrer Mitbewohnerin.
Dr. Lohe antwortete handschriftlich.
Mit Tinte.
Mit Zeit.
Einmal schrieb er:
„Paul schläft manchmal unruhig. Dann steht er auf, geht zum Kamin und legt sich dort hin, als würde er etwas erwarten.
Ich denke, es ist Maria. Manche Lieben hinterlassen einen Platz, den man nicht füllen muss.“
Lena las diesen Satz dreimal.
Dann schrieb sie zurück:
„Ich glaube, sie hat ihm erlaubt, weiterzugehen. Aber nicht, sie zu vergessen.“
Im März kam ein Brief von einem Notar aus Hildesheim.
Lena saß im Studentenwohnheim, als sie ihn öffnete.
„Im Testament von Frau Maria Hinrichs sind Sie, Frau Lena Hinrichs, als alleinige Erbin eingesetzt.
Es betrifft insbesondere das Reihenhaus in der Gartenstraße sowie eine Sparkontenummer bei der Volksbank Hildesheim.“
Lena war einen Moment lang stumm.
Sie dachte an den Teetisch. An das Sofa. An die Decke, auf der Bandit immer lag.
Sie konnte den Geruch fast riechen.
Im Anhang des Schreibens fand sie eine handgeschriebene Notiz.
„Liebe Lena,
ich gebe dir nicht nur ein Haus. Ich gebe dir einen Ort, an dem du Wurzeln schlagen kannst – wenn du willst.
Vielleicht wird es mal ein Zuhause für andere – für Tiere, für Geschichten, für Stille.
Ich vertraue dir.
Deine Oma Maria“
Lena weinte.
Still, mit offenem Herzen.
Im Mai kehrte sie zurück nach Hildesheim.
Nur für ein Wochenende.
Sie ging durch das Haus, das ihr nun gehörte, Schritt für Schritt, Raum für Raum.
Alles war noch da.
Der Teppich mit den kleinen Schnauzerhaaren.
Die Teekanne mit dem abgesprungenen Griff.
Der Schrank mit den alten Schulheften.
Sie ging in den Garten.
Die Fliederbüsche standen in voller Blüte.
Und plötzlich erinnerte sie sich an Ottos ersten Tag.
Und an Marias letzten Morgen.
Sie setzte sich auf die Bank.
Und da wusste sie es.
Im Herbst wurde aus dem Haus ein Begegnungsort.
Lena nannte ihn: „Marias Bank“.
Ein Ort für Menschen über sechzig, die Tiere verloren hatten.
Oder solche aufgenommen hatten.
Ein Ort zum Zuhören, Erzählen, Schweigen.
Es gab Tee.
Und selbstgebackene Hundekekse.
Und jeden Mittwoch einen Spaziergang durch den Park – mit allen Hunden, die jemand dabei hatte.
An der Tür hing ein Foto von Maria mit Otto.
Und eines von Bandit.
Mit roter Schleife.
Ein Jahr nach Marias Tod kam Dr. Lohe ein letztes Mal nach Hildesheim.
Er war müde geworden, das Laufen fiel ihm schwer.
Bandit – Paul – war an seiner Seite. Grau um die Schnauze, aber aufrecht.
Sie verbrachten den Nachmittag auf der Bank im Garten.
Lena brachte Tee.
„Er ist alt geworden“, sagte sie.
Dr. Lohe nickte.
„Und ich auch.“
„Aber Sie sind noch da.“
„Nicht mehr lange.“
Er sah sie an.
Sein Blick war klar.
„Ich habe keine Familie mehr. Kein Haus. Aber ich habe einen Wunsch.“
Zwei Monate später verstarb Sebastian Lohe in seiner Wohnung in Celle.
Er hinterließ wenig Besitz.
Aber einen letzten Brief an Lena.
„Paul gehört nun dir. Ich danke dir, dass du das Ende eines Lebens nicht als Verlust begreifst – sondern als Weitergabe.
Vielleicht braucht es nicht viel, um die Welt ein Stück heller zu machen.
Vielleicht nur einen Hund, der dreimal den Namen wechselte – und immer derselbe blieb.“
Paul lebte noch ein halbes Jahr.
Er wurde blind.
Sein Rücken wurde krumm.
Aber sein Herz blieb ruhig.
Am letzten Tag lag er unter Marias altem Apfelbaum.
Er atmete schwer.
Und doch friedlich.
Lena setzte sich zu ihm.
Sie sagte nichts.
Sie streichelte nur.
Und als der letzte Atemzug ging, stand kein Wind auf, kein Vogel schrie.
Es war nur Stille.
Und ein Gefühl von Heimkehr.
Auf seinem Grabstein im Garten steht:
„Paul. Bandit. Benno.
Du hast nicht gesprochen. Aber du hast alles gesagt.“
Manche Geschenke haben keinen Preis.
Sie werden nicht mit Schleifen überreicht, sondern mit Blicken, mit Taten, mit Nähe.
Maria bekam einen Hund.
Doch was sie wirklich bekam, war ein zweites Leben.
Ein Abschied in Würde.
Und eine Geschichte, die noch lange nachwirkt – in den Pfoten eines Tieres, in den Händen einer Enkelin, in der Stille eines alten Hauses.
Und vielleicht – wenn man genau hinhört – bellt irgendwo da draußen gerade ein neuer Anfang.