Wenn ich ehrlich bin, dachte ich nach diesem Brief, die Geschichte sei „zu Ende erzählt“.
Ein junger Mensch hatte verstanden, was zählt. Ein Kreis hatte sich geschlossen. Ich hätte den Umschlag in eine Schublade legen, mir die Tränen abwischen und in Ruhe alt werden können.
Aber das Leben hat eine Eigenschaft, die ich in fünfzig Jahren Notaufnahme gelernt habe:
Es lässt dich nie in Ruhe „fertig“ sein.
Zwei Wochen nach dem Brief wachte ich um 02:47 Uhr auf. Nicht, weil ich musste. Nicht, weil ein Geräusch mich geweckt hätte. Ich war einfach wach – so wach, wie man nur ist, wenn der Körper etwas erinnert, das der Kopf längst vergessen wollte.
Ich lag da, hörte das leise Knacken der Heizung, und in meinem Inneren begann dieses alte Summen.
Der Ton, den Menschen nicht hören, die nie Nachtschicht hatten.
Ein inneres Blaulicht.
Ich stand auf, machte mir einen Tee, der am Ende ohnehin nur lauwarm wurde, weil ich ihn vergaß. Der Brief lag noch auf dem Küchentisch. Ich hatte ihn am Abend wieder gelesen, wie man einen kleinen Glücksbringer anfasst, um sich zu vergewissern, dass er real ist.
„Danke, dass Sie mir gesagt haben, dass es zählt.“
Ich strich mit dem Daumen über die Zeilen und dachte an all die Male, in denen ich selbst hätte hören müssen, dass es zählt.
Denn so heldenhaft dieser Text klingt, ich war nicht immer sicher.
Ich war nicht immer stolz.
Manchmal war ich einfach nur müde.
Der Morgen kam grau und still. Ein Wintermorgen, wie er in der Stadt immer ein bisschen nach Abgasen und nassem Stein riecht. Ich ging einkaufen, schob meinen Korb zwischen Regalen, als wäre das die wichtigste Aufgabe der Welt, und versuchte, mich an den Rhythmus eines normalen Tages zu gewöhnen: Brot, Milch, Äpfel.
Kein Monitorpiepen. Keine Handschuhe, die zu eng sitzen. Keine Stimmen, die sagen: „Wir verlieren ihn.“
Zuhause klingelte das Telefon.
Es war nicht meine Tochter. Nicht die Nachbarin.
Es war eine Nummer, die ich seit meiner Pensionierung nicht mehr gesehen hatte.
Meine alte Stationsleitung.
„Karin?“, sagte sie, und ich hörte schon in diesem einen Wort, dass sie nicht anrief, um über das Wetter zu reden.
„Ich bin’s“, sagte ich.
Kurze Pause. Dann: „Wir haben Personalausfall. Und heute Nacht wird’s schlimm. Die Grippewelle… und der Wetterdienst sagt, es kommt Glatteis. Viele Stürze, Unfälle. Wir sind knapp.“
Ich starrte auf meine Küche. Auf die Topfpflanze am Fenster, die ich mehr pflegte als mich selbst. Auf den Brief.
Und ich spürte, wie mein Körper bereits eine Entscheidung getroffen hatte, bevor mein Verstand hinterherkam.
„Ich bin raus“, sagte ich leise. „Ich bin vierundsiebzig.“
„Ich weiß“, sagte sie. Kein Druck. Keine Manipulation. Nur Ehrlichkeit. „Du musst nicht. Aber wenn du könntest… nur für eine Nacht. Nur als Springerin. Nur da sein.“
Da sein.
Dieser Satz traf mich wie eine Hand auf die Schulter.
Ich sah wieder den Jungen mit den verstrubbelten Haaren in der Turnhalle. Seine abgetretenen Schuhe. Sein Flüstern: Mein Papa ist Gebäudereiniger.
Ich sah seine feuchten Augen.
Und ich hörte meine eigene Stimme von damals: Das ist alles, was zählt.
Ich atmete aus.
„Eine Nacht“, sagte ich. „Ich komme.“
Wenn du lange genug Notaufnahme gemacht hast, erkennst du ein Gebäude nicht an der Fassade, sondern am Geräusch, das es macht, wenn du durch die Tür gehst.
Die automatische Eingangstür zischte.
Und sofort war es da: dieses Gemisch aus Desinfektionsmittel, kaltem Kaffee und menschlicher Sorge. Das Murmeln. Das Klacken von Schuhen. Der entfernte Alarmton, der nie ganz weg ist, wie ein Nerv im Hintergrund.
„Karin!“
Eine junge Pflegekraft kam auf mich zu, kaum älter als die Schüler von damals, und ihr Gesicht war diese Mischung aus Respekt und Panik, die ich schon so oft gesehen hatte.
„Schön, dass Sie da sind“, sagte sie und duzte mich nicht, obwohl alle in der Notaufnahme irgendwann duzen. Sie hielt noch an einer Höflichkeit fest wie an einem Geländer.
„Zeig mir, wo es brennt“, sagte ich.
Sie lachte kurz – ein abgehacktes Lachen, das mehr Luft war als Freude und führte mich in den Bereich, wo die Tragen standen.
Da lagen Menschen mit eingepackten Knien, blassen Gesichtern, blutigen Lippen.
Glatteis hatte begonnen, seine Ernte einzufahren.
Ein Mann hielt sich den Arm und stöhnte leise. Eine Frau mit grauen Locken zitterte und sagte immer wieder: „Ich wollte doch nur zum Bäcker.“
Und dann, mitten in diesem Chaos, hörte ich eine Stimme, die ich nicht sofort erkannte, aber mein Körper schon.
„Wir haben einen Kollaps am Bahnsteig gehabt, Reanimation begonnen, Puls wieder da. Atemweg gesichert. Blutdruck instabil.“
Ich drehte mich um.
Da stand er.
Nicht mehr schmächtig. Nicht mehr ein Junge.
Er trug die Kleidung eines Notfallsanitäters, die Jacke halb offen, die Haare noch immer ein bisschen widerspenstig, als hätte er sich nie ganz mit Bürsten anfreunden können. Seine Augen waren dieselben. Wach. Wach wie jemand, der schon zu viel gesehen hat und trotzdem bleibt.
Unsere Blicke trafen sich.
Für einen Moment blieb die Welt um uns herum stehen, obwohl sie es objektiv nicht tat. Menschen liefen, Geräte piepten, jemand rief nach einer Ärztin und trotzdem war da dieser winzige, stille Raum zwischen uns.
„Karin?“, sagte er, als wäre ich ein Foto, das plötzlich aus dem Rahmen steigt.
Ich nickte.
Er schluckte. Dann lachte er – diesmal wirklich. Nicht laut, aber warm.
„Ich dachte, Sie sind längst… ich meine…“
„Weg?“, half ich ihm.
„Im verdienten Ruhestand“, sagte er schnell, als müsste er sich entschuldigen.
„War ich“, sagte ich. „Und jetzt bin ich hier.“
Er legte kurz die Hand an die Trage, als würde er sich erden.
„Ich bin’s“, sagte er. „Der mit den…“ Er machte eine kleine Bewegung zu seinen Haaren.
„Verstrubbelt“, sagte ich, und jetzt lachte ich auch.
„Ja“, sagte er. „Verstrubbelt.“
Dann wurde sein Blick wieder ernst.
„Wir brauchen einen Schockraum“, sagte er.
„Wir haben einen“, sagte ich. „Komm.“
Und plötzlich waren wir nicht mehr zwei Menschen, die sich wiedersehen.
Wir waren Team.
Im Schockraum ist keine Zeit für Pathos.
Da gibt es nur Handgriffe.
Ich zog Handschuhe über, hörte die Latexkante schnappen. Der Patient lag da, graues Gesicht, die Lippen leicht blau. Eine Stirnfalte wie ein Fragezeichen.
„Wie heißt er?“, fragte ich.
„Unbekannt“, sagte der Notfallsanitäter. „Keine Papiere.“
Unbekannt.
In meinem Kopf war das nie ein Mangel. Es war eine Erinnerung: Er ist trotzdem jemand.
„Wir sind da“, sagte ich, obwohl er mich vielleicht nicht hörte. „Wir sind da.“
Die Ärztin kam dazu, jung, konzentriert, mit diesem Blick, der gleichzeitig Mitgefühl und Mathematik ist.
„Lage?“
Der Notfallsanitäter berichtete ruhig, präzise. Ich sah, wie seine Hände kurz zitterten, als er eine Infusion weitergab. Nicht aus Unsicherheit. Aus Adrenalin.
Ich legte meine Hand auf seinen Unterarm, eine Sekunde, kaum spürbar.
Er sah mich an.
Und ich sah in diesem Blick: Ich tue es wirklich. Ich bin es wirklich.
Der Monitor zeigte Linien, Zahlen, kleine Hoffnungen.
Und dann – als wäre es ein schlechter Witz der Welt – flackerte das Licht.
Einmal.
Zweimal.
Und dann ging es aus.
Komplette Dunkelheit. Nur die Notbeleuchtung sprang an, ein kaltes, schwaches Licht, das alles noch härter aussehen ließ.
Im Flur hörte ich sofort Stimmen. Unruhe. Schritte. Ein „Was ist los?“.
Und irgendwo weiter weg ein dumpfes Geräusch, als würde ein Gerät neu starten.
Die Ärztin fluchte nicht. Sie tat, was gute Menschen in Krisen tun: Sie wurde stiller.
„Notstrom?“, fragte sie.
„Läuft“, sagte jemand draußen, aber in seiner Stimme war ein Fragezeichen.
Ich kannte dieses Gefühl.
Wenn Systeme, denen wir blind vertrauen, plötzlich wanken.
Und da, in dieser halbdunklen Höhle aus Geräuschen und Atem, verstand ich etwas, das ich eigentlich schon wusste:
In solchen Momenten rettet dich kein Titel.
Hier rettet dich, dass jemand weiß, wo er hinlangen muss, wenn es dunkel wird.
Die Ärztin arbeitete weiter. Wir arbeiteten weiter.
Und während wir den Patienten stabilisierten, hörte ich draußen ein weiteres Geräusch: Metall, Werkzeug, das Klacken eines Sicherungskastens.
Ein Mann kam in den Türrahmen, als wäre er aus einer anderen Realität in unsere gefallen.
Er trug Arbeitskleidung, die Knie abgenutzt, die Hände rissig. Sein Gesicht war nicht geschniegelt. Es war das Gesicht eines Menschen, der viel nachts arbeitet und wenig dafür gelobt wird.
„Ich bin vom technischen Dienst“, sagte er, atmete kurz durch. „Ein Teil vom System spinnt. Wir kriegen das hin.“
Sein Blick fiel auf den Patienten. Auf die Monitore.
Auf uns.
Er schluckte. Dann sagte er leiser: „Tut mir leid.“
„Nicht reden“, sagte ich. „Mach.“
Und er machte.
Er kniete sich an einen Kasten, öffnete ihn, prüfte, schaltete, lauschte.
Es war kein heroischer Film. Es war konzentrierte, unsichtbare Kompetenz.
Das Licht flackerte wieder.
Und dann, nach einem Moment, sprang es an – nicht schön, nicht vollständig, aber genug.
Genug, um zu sehen.
Ein Atemzug ging durch den Raum, als hätten wir alle unbewusst die Luft angehalten.
„Danke“, sagte die Ärztin.
Der Mann nickte nur. Nicht stolz. Nicht demütig. Einfach: Das ist mein Job.
Und in diesem Augenblick, so absurd es klingt, dachte ich an die Turnhalle. An den Gründer mit dem Kapuzenpulli. An die Laserpointer-Grafiken.
Und ich dachte:
Wenn sie das hier sehen könnten – nicht als Imagefilm, sondern in Echtzeit – sie würden begreifen, was ich damals meinte.
Später, als der Patient verlegt war und die schlimmste Welle der Nacht sich für einen Moment legte, stand ich am Stationsfenster und trank wieder Kaffee, der längst kalt war.
Der Notfallsanitäter – der Junge von damals – setzte sich neben mich. Seine Schultern hingen schwer, als hätte jemand Gewichte daran befestigt.
„Ich hab Ihren Brief noch“, sagte ich.
Er schaute mich an, überrascht. „Ich… ich dachte, der kommt vielleicht nie an.“
„Er ist angekommen“, sagte ich. „Und er hat mehr gemacht, als du denkst.“
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