Das letzte Versprechen im Schnee: Wie ein alter Hund uns lehrte, im Vergessen bedingungslos zu lieben

Die Stille war das Schlimmste. Sie war lauter als der Sturm in jener Januarnacht, lauter als das Heulen des Windes, der um die Ecken unseres alten Bauernhauses pfiff.

Es war eine schwere, drückende Stille, die sich wie Staub auf die Möbel legte, seit Axel nicht mehr da war.

Es waren nun vier Wochen vergangen, seit wir ihn unter der alten Eiche am Waldrand begraben hatten. Der Boden war noch gefroren gewesen, ich hatte mit der Spitzhacke kämpfen müssen, um ihm sein letztes Bett zu bereiten.

Renate hatte am Fenster gestanden und zugesehen, ohne wirklich zu verstehen, was ich da tat.

Heute Morgen wachte ich erneut um 02:41 Uhr auf. Mein Körper hatte diesen Rhythmus der Angst verinnerlicht.

Meine Hand tastete automatisch zur anderen Bettseite. Renate war da. Ihr Atem ging regelmäßig, ein leises, rasselndes Geräusch in der Dunkelheit.

Aber dann wanderte meine Hand weiter nach unten, über die Bettkante hinaus, in den leeren Raum, wo eine kalte, feuchte Nase meine Finger hätte stupsen sollen.

Da war nichts. Nur der Dielenboden.

Ich zog die Hand zurück, als hätte ich mich verbrannt. Der Phantomschmerz eines verlorenen Freundes.

Der Alltag mit Renate hatte sich verändert. Ohne Axel fehlte das Schmiermittel in unserem verrosteten Getriebe.

Früher, wenn Renate unruhig wurde, wenn ihre Hände anfingen zu zittern und sie nach Worten suchte, die in den Nebeln ihres Gehirns verschwunden waren, reichte es, wenn Axel seinen schweren Kopf auf ihren Schoß legte.

Sein ruhiger Herzschlag war ihr Metronom gewesen, das sie zurück in den Takt brachte. Jetzt war ich allein mit ihrer Unruhe. Und ich war ein schlechter Ersatz.

„Wo ist er hin?“

Die Frage kam beim Frühstück. Renate starrte auf ihr Marmeladenbrot, das sie in kleine Quadrate geschnitten hatte, ohne eines davon zu essen.

Ich holte tief Luft. Wir hatten dieses Gespräch heute schon dreimal geführt.

„Wer, mein Schatz?“ fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.

„Der… der mit den weichen Ohren. Der Axel.“

Sie sprach den Namen zögerlich aus, als wäre es ein Fremdwort.

„Axel ist tot, Renate. Er ist im Himmel.“

Sie sah mich an, ihre grauen Augen plötzlich klar und voller Vorwurf.

„Warum hast du ihn weggeschickt? Er mochte das nicht.“

„Ich habe ihn nicht weggeschickt“, sagte ich, und meine Stimme klang schärfer, als ich wollte. Die Müdigkeit fraß an meiner Geduld. „Er war alt. Er ist gestorben, weil er dich gerettet hat.“

Das war grausam. Ich wusste es, sobald die Worte meinen Mund verließen. Ich lud ihr eine Schuld auf, die sie nicht tragen und nicht verstehen konnte.

Renate senkte den Blick.

„Ich muss ihn suchen“, flüsterte sie und schob den Stuhl zurück.

„Nein, Renate, bleib sitzen.“

„Er hat Hunger“, beharrte sie und stand auf. In ihrer Hand hielt sie ein Stück Wurst, das sie heimlich vom Teller genommen hatte.

Ich sah zu, wie sie zur Terrassentür schlurfte. Ihre Bewegungen waren langsamer geworden seit jener Nacht im Graben. Die Kälte hatte sich in ihren Knochen festgesetzt.

Sie presste die Wurst gegen die Glasscheibe.

„Komm, Junge“, murmelte sie.

Draußen begann der Schnee zu schmelzen. Es war Februar im Schwarzwald, die hässliche Zeit zwischen Winter und Frühling, in der die Welt aus grauem Matsch und nackten Ästen besteht.

Ich stand auf, ging zu ihr und nahm ihr sanft die Wurst aus der Hand. Sie wehrte sich nicht, aber sie weinte leise.

„Er kommt nicht mehr, Renate“, sagte ich und drückte sie an mich.

„Aber ich habe ihm doch den Auftrag gegeben“, schluchzte sie in mein Hemd. „Er sollte aufpassen. Er darf nicht einfach gehen.“

Der Satz traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Das Notizbuch.

Später, als der Pflegedienst da war – eine junge Frau namens Sarah, die immer zu laut sprach und nach Desinfektionsmittel roch –, flüchtete ich in die Garage.

Das Notizbuch lag noch immer auf meiner Werkbank, dort, wo ich es in jener Nacht gefunden hatte. Es war fleckig von Motoröl und meinen Tränen.

Ich schlug es auf. Ich las die Worte erneut.

Er muss mein Ersatzhirn sein.

Ich strich über das Papier. Renate hatte gewusst, was kommen würde. Sie hatte Strategien entwickelt, von denen ich nichts geahnt hatte. Und sie hatte Axel rekrutiert.

Aber jetzt war der Rekrut gefallen. Und der General hatte vergessen, wie man die Armee führt.

Ich nahm einen Bleistift. Meine Hände, rau von der Arbeit und zittrig vom Alter, hingen über dem Papier.

Es kam mir albern vor, aber ich fühlte den Drang, ihr zu antworten. Oder besser: Dem Teil von ihr zu antworten, der dieses Buch geschrieben hatte.

„Liebe Renate“, schrieb ich. Die Buchstaben waren krumm.

„Axel ist nicht desertiert. Er hat seine Schicht beendet. Aber jetzt weiß ich nicht weiter. Ich versuche stark zu sein, wie alle sagen. Aber ich bin kein Hund.“

Ich schrieb weiter: „Ich habe keine unendliche Geduld. Ich kann nicht einfach nur da sein und wedeln, wenn du mich anschreist, weil ich deinen Namen vergessen habe oder weil ich nicht weiß, wo die Küche ist. Ich vermisse ihn auch.“

Ich starrte auf das Geschriebene. Es tat gut, es zuzugeben.

Draußen hörte ich Sarahs Auto davonfahren. Ich ging zurück ins Haus.

Renate saß im Wohnzimmer, in ihrem Sessel. Der Fernseher lief, eine dieser Quizsendungen, die sie früher geliebt hatte. Jetzt starrte sie nur auf die bunten Lichter.

Auf dem Boden, genau dort, wo Axels Hundekissen gelegen hatte, lag jetzt eine gefaltete Wolldecke.

Ich hatte sie hingelegt, weil der leere Fleck auf dem Parkett wie eine offene Wunde aussah. Renate starrte auf die Decke.

„Er kommt gleich“, sagte sie überzeugt.

Der Tag verging in diesem zermürbenden Kreislauf. Suchen, Fragen, Erklären, Vergessen.

Am Nachmittag wurde sie aggressiv. Das passierte selten, aber wenn, dann war es furchteinflößend. Sie wollte nach Hause, obwohl sie zu Hause war.

Sie beschuldigte mich, ein Fremder zu sein, der sie entführt hatte.

„Lass mich gehen!“ schrie sie und rüttelte an der verschlossenen Haustür. „Mein Mann wird dich finden! Helmut wird dich verprügeln!“

„Ich bin Helmut!“ rief ich verzweifelt.

„Lügner! Helmut ist jung! Helmut hat kräftige Arme und dunkle Haare!“

Sie sah mich an – einen alten, krummen Mann mit weißem Haar und Tränensäcken – und sah einen Eindringling.

Früher hätte Axel sich jetzt zwischen uns geschoben. Er hätte sich gegen ihre Beine gelehnt, und seine bloße Präsenz hätte sie geerdet.

Aber ich stand allein im Flur.

Ich versuchte, ihre Hand zu nehmen. Sie schlug nach mir. Ihre Fingernägel kratzten über meinen Unterarm, eine dünne Blutspur hinterlassend.

Ich wich zurück. Wut stieg in mir auf – heiße, dunkle Wut.

Warum musste das so schwer sein? Warum musste sie mir das antun, nach all dem, was ich für sie tat?

Ich wollte schreien. Ich wollte die Tür aufreißen und brüllen: „Geh doch! Geh raus in die Kälte und sieh, wie weit du kommst!“

Aber dann sah ich ihre Augen.

In ihrer Panik, in ihrer Wut, war da dieser kleine Funke absoluter Verlassenheit. Sie war ein kleines Mädchen, das im Dunkeln aufgewacht war.

Sie verteidigte sich gegen eine Welt, die keinen Sinn mehr ergab.

Und ich erinnerte mich an Axels Blick in jener Nacht im Graben. Müde. Sanft. Ich bin bei ihr geblieben.

Er hatte nicht gebellt. Er hatte nicht gezerrt. Er war einfach geblieben.

Ich atmete aus. Die Wut sackte in sich zusammen und ließ nur Erschöpfung zurück.

Ich sagte nichts mehr. Ich hörte auf, sie überzeugen zu wollen, dass ich Helmut war.

Stattdessen ging ich langsam in die Knie. Das Knacken meiner Gelenke hallte im Flur wider.

Ich setzte mich auf den Boden, mit dem Rücken zur Wand, etwa zwei Meter von ihr entfernt. Ich machte mich klein.

Ich senkte den Kopf, vermied den direkten Augenkontakt, genau wie Axel es getan hatte, wenn sie schimpfte. Ich saß einfach da.

Minuten vergingen. Renates Weinen wurde leiser. Sie beobachtete mich argwöhnisch.

Ich begann leise zu summen. Kein bestimmtes Lied, nur eine ruhige Melodie, tief in der Kehle.

Langsam ließ die Spannung in ihren Schultern nach. Sie rutschte an der Tür herunter, bis auch sie auf dem Boden saß.

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