Das letzte Versprechen im Schnee: Wie ein alter Hund uns lehrte, im Vergessen bedingungslos zu lieben

„Der Hund“, sagte sie leise. Es war keine Frage mehr.

„Ja“, sagte ich sanft, ohne aufzusehen. „Der Hund passt auf.“

Sie krabbelte – auf allen Vieren, mühsam und zittrig – auf mich zu. Mein Herz hämmerte. Erkannte sie mich?

Sie erreichte mich. Sie streckte die Hand aus und berührte meine Schulter. Dann legte sie ihren Kopf auf meine Brust.

„Du bist warm“, murmelte sie.

„Ich bin hier“, sagte ich.

Wir saßen eine Ewigkeit so im Flur, zwei alte Menschen auf dem kalten Boden, verbunden durch das Fehlen eines Dritten.

In diesem Moment begriff ich, was Axel mir hinterlassen hatte. Es war nicht nur die Erinnerung an seine Treue. Es war eine Anleitung.

Manchmal braucht Liebe keine Worte. Manchmal braucht sie keine Logik und keine Wahrheit über Namen und Daten.

Manchmal braucht Liebe nur Anwesenheit. Einfach da sein. Den Sturm aushalten, ohne wegzulaufen.

Der Frühling kam spät in diesem Jahr in den Schwarzwald.

Es war Anfang April, als der letzte Schnee endlich von den Hängen verschwunden war und die Wiesen begannen, dieses unglaubliche, leuchtende Grün anzunehmen.

Renates Zustand hatte sich stabilisiert, wenn man das so nennen konnte. Sie vergaß jetzt öfter, wie man isst. Ich musste sie füttern, Löffel für Löffel, geduldig wie bei einem Kind.

Aber die Nächte waren ruhiger.

Ich hatte das Bett umgestellt. Es stand jetzt dichter an der Wand, und ich hatte eine Rampe für den alten Sessel gebaut, damit sie leichter aufstehen konnte.

Eines Nachmittags nahm ich sie mit in den Garten. Ich hatte sie dick eingepackt, in Axels Lieblingsdecke. Ich setzte sie auf die Bank unter der Eiche.

„Schau mal“, sagte ich und zeigte auf den Boden.

Dort, wo die Erde vor Wochen noch aufgewühlt gewesen war, sprossen nun die ersten Krokusse. Lila und Gelb, zarte Farbtupfer auf dem dunklen Waldboden.

Und in der Mitte hatte ich einen kleinen Setzling gepflanzt – einen Hartriegel. Er würde stark werden und im Winter rot leuchten.

Renate starrte auf das kleine Grab.

„Da schläft er“, sagte sie plötzlich. Klar und deutlich.

Ich zuckte zusammen. „Wer, Renate?“

„Der Axel.“

Sie lächelte. Es war das erste Mal seit Wochen, dass ich dieses Lächeln sah – jenes Lächeln, das mich vor fünfzig Jahren verzaubert hatte.

„Er schläft tief. Er ist müde vom Laufen.“

Mir stiegen Tränen in die Augen. Sie wusste es. Irgendwo in dem Labyrinth ihres Geistes hatte sie einen Weg gefunden, den Verlust zu verarbeiten.

„Ja“, krächzte ich. „Er hat sich das Ausruhen verdient.“

Sie tätschelte meine Hand. Ihre Haut war pergamentdünn, übersät mit Altersflecken.

„Du bist ein guter Junge, Helmut“, sagte sie.

Ich hielt den Atem an. Sie hatte meinen Namen gesagt. Sie wusste, wer ich war.

„Er hat mir gesagt, ich soll auf dich aufpassen“, fuhr sie fort, und ihr Blick wanderte wieder ins Leere, zurück in ihre eigene Welt. „Der Hund hat gesagt, du brauchst Hilfe. Du bist nicht so stark wie du tust.“

Ich lachte auf, ein kurzes, nasses Auflachen.

„Hat er das?“

„Ja. Er hat gebellt. In meinem Kopf.“ Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Wir müssen jetzt weitermachen. Nur wir zwei.“

„Nur wir zwei“, wiederholte ich.

Später am Abend, als ich sie ins Bett gebracht hatte, ging ich noch einmal in die Garage.

Ich nahm das Notizbuch. Unter meinen Eintrag von vor Wochen schrieb ich ein neues Datum.

„Du hattest recht, Renate. Er war ein schlauer Hund. Aber er hat mir nicht nur beigebracht, wie man aufpasst. Er hat mir beigebracht, wie man liebt, wenn das Gehirn versagt und nur noch das Herz spricht.“

Ich schrieb weiter: „Ich werde dein Ersatzhirn sein, so gut ich kann. Aber wichtiger noch: Ich werde dein Anker sein. Ich weiche nicht von deiner Seite. Genau wie er.“

Ich klappte das Buch zu und legte es in die Kiste mit den Erinnerungsstücken – neben Axels Halsband und Renates altem Ehering, der ihr mittlerweile zu groß geworden war.

Dann ging ich zurück ins Schlafzimmer. Die Uhr zeigte 22:00 Uhr.

Ich legte mich neben meine Frau. Ich griff nicht mehr nach der leeren Stelle auf dem Boden.

Stattdessen rutschte ich näher an Renate heran. Ich legte meinen Arm um sie, schwer und beschützend, so wie Axel sich über sie gelegt hatte.

Ich spürte ihre Wärme. Ich hörte ihren Atem.

Draußen begann ein Kauz zu rufen, ein einsamer, aber beständiger Laut in der Nacht.

Ich wusste, dass morgen ein schwerer Tag werden würde. Und übermorgen auch. Die Demenz würde nicht pausieren.

Aber ich hatte keine Angst mehr vor der Kälte.

Ich schloss die Augen. In meinen Gedanken sah ich Spuren im Schnee. Nicht mehr schlurfend und unsicher.

Ich sah zwei Paar Fußspuren, die nebeneinanderher liefen, und daneben, leicht vorauseilend, die Abdrücke von vier Pfoten, die uns den Weg zeigten.

„Gute Nacht, Axel“, flüsterte ich in die Dunkelheit.

Renate regte sich im Schlaf.

„Gute Nacht“, murmelte sie.

Und für diesen Moment, in der Stille des alten Hauses, war alles gut.

Scroll to Top