Das Licht im Fenster | Ein Hund, ein Licht im Fenster und eine Nachbarin, die eine Geschichte voller Treue entdeckt

Manchmal bleibt ein Hund länger vor einem Fenster sitzen als ein Mensch vor seinen Erinnerungen.

Und manchmal erzählen stille Blicke mehr als laute Stimmen.

Jeden Abend, wenn ein bestimmtes Licht erlischt, beginnt seine stille Wache.

Man sagt, Tiere vergessen schneller als wir, doch dieser Hund beweist das Gegenteil.

Was er bewacht, ist nicht nur ein Fenster. Es ist ein Versprechen.

🐾 Teil 1: Das Licht im Fenster

Im Oktober 1998 zog Almut Heidkamp in die Rosenstraße von Lennep, einem alten Stadtteil von Remscheid. Es war eine Straße, die den Geruch vergangener Jahrzehnte atmete. Kopfsteinpflaster, Regenrinnen aus Zink, an denen sich das Wasser wie eine ewige Melodie entlangzog. Die Häuser standen dicht gedrängt, viele mit abblätternden Fassaden, die ihre Geschichte nicht mehr verbergen wollten.

Almut war 56 Jahre alt, eine Frau mit kantigem Gesicht, schmalen Schultern und dem Schritt einer, die nie gelernt hatte, langsam zu gehen. Sie hatte ihr Leben lang in einer Buchbinderei gearbeitet, bis die Hände nicht mehr mitmachten. Nun war sie Witwe und suchte nichts weiter als Ruhe.

Doch Ruhe fand sie nicht.

Schon in ihrer ersten Nacht bemerkte sie ihn. Einen Hund.

Er saß regungslos auf dem Gehweg gegenüber, direkt vor Hausnummer 17. Ein drahtiges Tier, groß, mit grauem Fell, das in der Straßenlaterne silbrig schimmerte. Seine linke Vorderpfote schien leicht nach außen zu stehen, als hätte er vor Jahren einen Bruch erlitten. Die Augen waren bernsteinfarben und hielten jede Bewegung fest.

Almut hatte noch nie einen Hund wie diesen gesehen. Er war nicht laut. Er bellte nicht. Er rührte sich kaum. Er saß einfach da – und blickte hinauf zum zweiten Stock von Hausnummer 17.

Das Fenster dort brannte hell. Erst spät in der Nacht, wenn das Licht erlosch, stand der Hund langsam auf, streckte sich steif wie ein alter Mann und verschwand in die Dunkelheit.

Am nächsten Abend wiederholte sich alles. Und am übernächsten auch.

Almut war neugierig. Aber in einer Straße wie dieser stellte man keine Fragen. Die Nachbarn grüßten kurz, verschwanden hinter Türen, als hätten sie Angst, zu viel zu verraten. Doch Almut war keine, die sich mit Schweigen zufriedengab.

Sie begann den Hund zu beobachten.

Er trug kein Halsband. Sein Fell war gepflegt, wenn auch rau. Er fraß nie aus den Mülltonnen, wie es streunende Hunde taten. Er wartete. Immer nur wartete. Und immer nur auf dieses Fenster.

Eines Abends trat Almut näher an ihn heran. Sie hatte ein Stück Brot mit Butter eingepackt, in eine Serviette gewickelt, wie früher für ihren Mann. Sie beugte sich langsam, reichte es hin.

Der Hund wandte den Kopf kurz zu ihr, musterte sie mit diesem stillen Blick, der mehr Gewicht hatte als Worte. Dann drehte er sich wieder zum Fenster. Das Brot blieb unberührt in ihrer Hand.

Almut spürte einen Stich. Etwas in diesem Verhalten erinnerte sie an ihr eigenes Leben. Auch sie hatte gewartet. Auf Antworten, auf Briefe, auf ein Lächeln, das nie zurückkam.

In den folgenden Tagen beobachtete sie nicht nur den Hund, sondern auch das Fenster. Hinter den Gardinen bewegten sich Schatten. Ein Mann musste dort wohnen, vielleicht allein. Einmal hörte sie leises Klavierspiel, gebrochen, wie mit zitternden Fingern gespielt.

Die Rosenstraße lebte von ihren Gerüchten, und so begann Almut zu lauschen. Im kleinen Laden an der Ecke, wo sie Milch kaufte, erwähnte sie beiläufig Hausnummer 17. Die Verkäuferin, Frau Löhr, verzog den Mund.

„Dort wohnt der alte Hartwig Falkenrath. Seit zwanzig Jahren. Ein Sonderling. Spricht kaum mit jemandem. War früher Seemann, sagt man. Jetzt ist er krank.“

„Und der Hund?“ fragte Almut.

Frau Löhr zuckte mit den Schultern. „Der ist einfach da. Gehört keinem hier. Aber er weicht nicht von seiner Stelle.“

Almut konnte das nicht loslassen.

Eines Abends regnete es stark, der Wind fegte durch die Straße, und der Hund saß trotzdem da. Tropfen perlten an seinem Fell ab, doch er rührte sich nicht. Almut konnte nicht länger nur zuschauen. Sie zog einen alten Regenschirm aus dem Schrank und stellte ihn neben den Hund in den Boden. Er sah sie kurz an, dann wieder zum Fenster. Sie blieb eine Weile stehen, bis ihr die Beine wehtaten.

In dieser Nacht erlosch das Licht früher als sonst. Der Hund erhob sich, schüttelte das Wasser aus dem Fell und verschwand.

Almut blieb allein im Regen zurück.

Am nächsten Morgen klopfte sie an die Tür von Hausnummer 17. Keine Antwort. Erst als sie es ein zweites Mal versuchte, öffnete sich ein Spalt. Ein hagerer Mann mit tiefen Falten und wässrigen Augen stand da. Seine Stimme war rau.

„Was wollen Sie?“

„Verzeihen Sie“, sagte Almut vorsichtig. „Aber Ihr Hund…“

„Das ist nicht mein Hund“, unterbrach er sie scharf. „Er wartet. Aber nicht auf mich.“

Die Tür fiel ins Schloss.

Almut blieb zurück, das Herz klopfend. Der Satz nagte an ihr: Er wartet. Aber nicht auf mich.

Von diesem Abend an änderte sich etwas. Immer wenn sie den Hund sah, fragte sie sich, auf wen oder was er wartete. Und warum er das Licht brauchte, um zu bleiben.

Sie begann zu schreiben. Kleine Notizen in ein Heft, wie sie es früher bei der Arbeit tat, wenn sie Buchrücken prüfte. „19:47 – Hund sitzt. Blick zum Fenster. Licht brennt.“ „21:12 – Hund bewegt sich nicht. Augen starr.“

Es wurde fast eine Obsession.

Eines Nachts, kurz vor Mitternacht, hörte sie ein Geräusch. Ein Winseln, leise, fast menschlich. Der Hund stand nicht mehr aufrecht. Er lag auf dem Pflaster, die Schnauze auf die Pfoten gelegt, die Augen noch immer zum Fenster gerichtet.

Und dann geschah es.

Das Licht erlosch.

Der Hund hob den Kopf, heulte einmal, lang und tief, so voller Schmerz, dass Almut eine Gänsehaut bekam. Dann stand er auf und humpelte davon.

Sie folgte ihm zum ersten Mal.

Die Rosenstraße lag still. Der Hund bog in eine Seitenstraße, dann in eine weitere. Almut folgte vorsichtig, die Hände in den Taschen vergraben. Schließlich blieb er vor einem alten Friedhof stehen, dessen Tor seit Jahren rostete. Der Hund schlüpfte hindurch, als hätte er den Weg im Schlaf gekannt.

Almut stand wie angewurzelt.

Dort, zwischen verfallenen Grabsteinen, verschwand er im Dunkel.

Sie wusste in diesem Moment: Dies war kein gewöhnlicher Hund.

Und sie ahnte, dass sie einer Geschichte gegenüberstand, die älter war als ihre eigenen Erinnerungen.

Am Ende dieser Nacht begann ihr Versprechen – herauszufinden, warum das Tier wartete.

🐾 Teil 2: Die Stille der Straße

Am Morgen war die Rosenstraße still wie ein leeres Treppenhaus.
Almut stand vor dem Tor des alten Friedhofs am Stadtpark und fror an den Fingern.
Der Tau lag schwer auf dem Gras, als wäre die Nacht noch nicht fertig gewesen.

Sie drückte das Tor an. Es quietschte und gab nach.
Zwischen krummen Linden lagen die Steine schief im Boden.
Vögel hopsten über Kiesel, und irgendwo klapperte ein Fensterladen.

Der Hund war nicht da.
Nur die Spur seiner Pfoten im feuchten Sand zeichnete eine Linie, die auf einen hinteren Winkel führte.
Almut folgte ihr langsam, als würde sie in fremder Schrift lesen.

Ein Mann tauchte hinter einer Hecke auf.
Er trug eine alte Mütze und trug eine Schaufel, die an der Spitze blank war.
Sein Gesicht war gerötet, die Augen wasserhell.

Er blieb stehen, sah an Almut vorbei und erkannte dann doch ihr Zögern.
“Sie suchen wen”, sagte er.
“Den Hund”, antwortete Almut.

“Kommt jeden Abend”, sagte der Mann.
“Setzt sich dort hinten an dieselbe Stelle. Bewegt sich nicht, bis irgendwo ein Licht ausgeht.”
Er tippte mit der Schaufel gegen die Erde, als wäre das eine Uhr.

“Kennt man ihn hier”, fragte Almut.
“Man kennt ihn nicht. Aber man weiß von ihm”, sagte der Mann.
“Ich bin Konrad Spindler. Ich räume auf, was die Zeit liegen lässt.”

Er ging voran.
Almut folgte zwischen Gräbern mit alten Namen, Moos, abgefallenen Buchstaben.
Eine Amsel flog auf und ließ eine Feder fallen, die an ihrem Mantel klebte.

Sie blieben vor einem niedrigen Stein stehen.
Er war von Flechten überzogen, in den Buchstaben hing feuchte Erde.
Spindler wischte mit seiner Handschuhhand darüber, als streichele er eine Stirn.

“Hier sitzt er”, sagte er leise.
“Immer hier. Manchmal winselt er, als hätte er etwas vergessen, das ihm nicht gehört.”
Almut las nur Bruchstücke, weil Gras darüber lag.

Sie beugte sich näher.
Die Jahreszahlen waren klar.
1997 stand dort und schnitt ihr durch den Bauch.

“Ich habe ihn gestern Nacht gesehen”, sagte sie.
“Er ging erst, als das Licht erlosch.”
Spindler nickte, als sei das nichts Neues.

“Man sagt, drüben in der Rosenstraße sitzt einer und stellt jeden Abend eine Laterne ins Fenster”, sagte er.
“Eine aus Messing, die gelb brennt. Dann bleibt der Hund. Wenn sie ausgeht, steht er auf.”
Er sah sie an, als hätte er mehr verstanden, als er aussprach.

Almut dankte, steckte die Hände in die Taschen und ging zurück.
Die Luft roch nach feuchtem Laub und Eisen.
Sie dachte an den Satz, den Hartwig Falkenrath an der Tür gesagt hatte.

Am Nachmittag kochte sie Brühe.
Sie füllte sie in eine alte Blechdose, die früher Gerds Schrauben gehalten hatte.
Der Deckel passte nicht mehr ganz, doch die Wärme blieb.

Gegen Abend wartete sie am Fenster.
Der Hund kam pünktlich, als hätte ihn jemand gerufen.
Er setzte sich auf seinen Platz und hob nur einmal den Kopf, als eine Straßenbahn fern klirrte.

Almut ging hinunter.
Sie stellte die Dose ab, wartete, bis der Dampf weniger wurde, und schob sie näher.
Der Hund roch daran, rückte nicht fort, legte die Schnauze wieder auf die Pfoten.

“Du bleibst bei deiner Aufgabe”, flüsterte Almut.
“Du bist stärker als viele Menschen.”
Der Hund antwortete nicht. Er wartete.

Ein Mädchen aus dem Hinterhaus lief vorbei und hielt inne.
“Der ist jeden Abend da”, sagte sie und schaute hoch zum Fenster.
“Meine Oma sagt, er zählt die Sekunden mit den Augen.”

“Wie heißt er”, fragte Almut.
“Er hat keinen Namen”, sagte das Mädchen.
“Oder er hat ihn verloren.”

Almut blieb, bis ihr Rücken schmerzte.
Das Licht im zweiten Stock brannte ruhig, ohne Flackern.
Dann hörte sie Schritte auf der Treppe und die Tür von Hausnummer 17 ging auf.

Hartwig Falkenrath trat hinaus.
Er trug einen dicken Pullover, der an den Ellbogen gestopft war, und hielt eine kleine Flasche in der Hand.
Er sah Almut, sah den Hund und nickte kaum merklich.

“Es ist kalt”, sagte er.
Er setzte sich auf die Stufe.
Seine Hände zitterten, aber seine Augen waren klar.

“Ich habe Sie gestern abgefertigt”, sagte er nach einer Weile.
“Das war nicht recht. Sie fragen, weil Sie noch fragen können.”
Almut nickte nur.

“Die Laterne ist alt”, sagte er und blickte zum Fenster.
“Ich habe sie auf See gehabt. Sie ist schwer und eigenwillig. Aber sie brennt, wenn man ihr Ruhe gibt.”
Er strich über den Stoff seines Pullovers, als fühlte er dort Metall.

“Der Hund”, begann Almut.
“Der Hund wartet”, sagte Hartwig.
“Auf ein Zeichen, das es so nicht mehr gibt.”

Er stand langsam auf.
“Wenn Sie wollen, kommen Sie kurz rauf”, sagte er.
“Ich will Ihnen etwas zeigen. Danach können Sie wieder gehen.”

Almut zögerte.
Der Hund hob den Kopf, als hätte er verstanden.
Dann legte er ihn wieder auf die Pfoten und blickte weiter zum Licht.

Die Wohnung roch nach Wachs und altem Holz.
An der Wand hing ein Seestück, das jemand mit dicker Farbe gemalt hatte.
Auf der Fensterbank stand die Laterne, Messing blank, Glas geputzt.

Daneben lag ein kleines rotes Halsband.
Das Leder war abgetragen, der Verschluss stumpf, an einem Ring hing eine ovale Marke.
Die Gravur war matt, als hätte jemand sie oft mit dem Daumen gerieben.

Hartwig nahm die Laterne in die Hand.
“Früher stand hier eine Tischlampe”, sagte er.
“Seit einem Jahr stelle ich diese hier hin.”

“Warum”, fragte Almut.
“Weil sie nicht nach Wohnung riecht”, sagte er.
“Weil sie nach draußen leuchtet. Und weil sie ein Versprechen halten kann.”

Er deutete auf einen Rahmen.
Darin steckte ein Foto.
Eine Frau mit hellen Haaren stand am Fenster und hielt denselben Hund im Arm.

Almut fühlte, wie ihre Kehle eng wurde.
Die Frau lachte, und der Hund hatte die Augen halb geschlossen, als lausche er einer Stimme.
Hinter ihnen war die Gardine leicht zur Seite gezogen.

“Sie hieß Mareike”, sagte Hartwig.
“Sie wohnte hier. Es gab Abende, da machte sie das Licht an und hob die Hand. Einer, der unten wartete, wusste dann, dass alles gut ist.”
Er stellte die Laterne wieder ab und suchte nach Luft.

“Der Hund gehörte ihr”, sagte Almut.
“Er gehörte keinem”, sagte Hartwig leise.
“Er gehörte zu. Das ist ein Unterschied.”

Almut trat ans Fenster.
Unten saß der Hund still, wie ein Stein mit Puls.
Der Abend war fast schwarz, die Laterne leuchtete warm.

“Er frisst nicht”, sagte Hartwig.
“Nicht hier. Er trinkt Wasser am Brunnen im Hof und verschwindet erst, wenn die Nacht ohne Blick wird.”
Er griff an die Fensterklinke, als wollte er sie stützen.

“Wer macht das Licht aus”, fragte Almut.
“Ich”, sagte er.
“Solange ich kann.”

Er setzte sich auf einen Stuhl und hielt die Hände aneinander.
“Man unterschätzt, wie schwer es ist, etwas nicht zu vergessen”, sagte er.
“Man glaubt, die Zeit hilft. Aber sie legt nur Staub auf Dinge, die man dann noch klarer sieht.”

Almut nahm das Halsband.
Die Marke fühlte sich kühl an.
Sie hielt sie schräg ins Licht und konnte zwei Buchstaben erkennen.

Ein R und ein A.
Der Rest war vom Reiben glatt geworden.
Sie legte es zurück, als würde sie jemanden wecken, der schlafen musste.

“Ich habe gestern den Hund zum Friedhof folgen sehen”, sagte sie.
Hartwig schloss die Augen.
“Ja”, sagte er, und dieses Ja war schwerer als ein ganzer Satz.

“Sie wissen, wohin er dort geht”, fragte Almut.
“Ich weiß, wo die Linden dichter stehen”, sagte Hartwig.
“Und wo der Wind weniger spricht.”

Almut trat zurück an die Tür.
“Ich werde morgen früh hingehen”, sagte sie.
“Ich will den Namen lesen.”

“Sie werden mehr als einen Namen lesen”, sagte Hartwig.
“Sie werden einen Satz lesen, den man nicht löschen kann.”
Seine Stimme klang wie ein Seil, das nachgibt und doch hält.

Später stand Almut wieder unten.
Der Hund blinzelte in das warme Licht.
Sein Fell war an den Schultern dunkler, an der Schnauze schon grau.

Es begann zu nieseln.
Ein Tropfen hing an seiner Nase, wurde groß und fiel.
Er rührte sich nicht.

Als die Laterne erlosch, hob er den Kopf und stieß den leisen Laut aus, den Almut schon kannte.
Er stand auf, schüttelte sich und ging los.
Seine linke Vorderpfote setzte er ein wenig nach außen, als folge sie einer alten Spur.

Almut folgte in Abstand.
Die Stadt war weich vor Nässe, die Pflastersteine glänzten.
Hinter ihnen lag das dunkle Fenster, das noch nachglühte, obwohl nichts mehr brannte.

Am Tor des Friedhofs blieb der Hund kurz stehen.
Er wandte den Kopf, als sähe er durch sie hindurch, in eine Zeit, in der alles einfacher gewesen war.
Dann schob er sich durch die Öffnung.

Almut wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Sie hörte sein Atmen, dort hinten, als sänge jemand ohne Stimme.
Sie ging ihm nach, Schritt für Schritt, die Hände an den Mantel gedrückt.

Er saß wieder am niedrigen Stein.
Diesmal berührte er ihn mit der Pfote, als streiche er über ein Gesicht.
Almut kniete und schob vorsichtig das feuchte Gras zur Seite.

Die Buchstaben traten hervor.
Sie las und spürte, wie ihr ein kalter Luftzug den Rücken entlang fuhr.
Der Nachname war derselbe, den sie am Nachmittag an einer anderen Tür gesehen hatte.

Und unter den Jahreszahlen stand ein Satz, der wie ein Schlüssel klang.
Sie beugte sich tiefer und hielt den Atem an.
Morgen würde sie verstehen, warum ein Licht jeden Abend für einen Hund brannte.

🐾 Teil 3: Der Hund mit dem langen Warten

Der Morgen roch nach nasser Erde und kaltem Metall.
Almut ging mit einer weichen Bürste und einem alten Leinentuch zum Friedhof am Stadtpark.
Der Tau lag auf den Steinen wie feines Salz.

Konrad Spindler war schon da.
Er grüßte mit einem kurzen Nicken und wischte sich den Atem aus dem Bart.
Er zeigte mit der Schaufel in die Ecke, wo die Linden dichter standen.

Der niedrige Stein war im Tageslicht anders.
Er wirkte kleiner und gleichzeitig schwerer.
Moos klebte an den Kanten wie alte Gedanken.

Almut kniete.
Sie strich das Gras zur Seite und putzte vorsichtig mit dem Leinentuch.
Der Sand löste sich, die Buchstaben traten hervor.

Mareike Falkenrath stand da.
Darunter zwei Jahreszahlen, die die Luft um einen Grad kälter machten.
Und darunter ein Satz, der nicht wie ein Spruch klang, sondern wie eine Stimme.

Das Licht im Fenster ist unser Versprechen.
Almut las ihn noch einmal, leise, damit er im Mund nicht zerbrach.
Sie spürte die Schwere in der Brust und nickte, als hätte jemand Antwort erwartet.

Am Fuß des Steins lag ein kleines Blechboot.
Das Blech war verbeult, am Bug klebte eine winzige Ankerfigur aus Messing.
Jemand hatte das Boot zwischen zwei Wurzeln festgeklemmt, damit es nicht wegrutschte.

Konrad stand neben ihr und sah auf ihre Hände.
Er sagte, so etwas habe er auf einem Grab noch nie gelesen.
Nicht als Schmuck und nicht als Bitte.

Almut legte das Tuch zusammen.
Sie dankte ihm und ging langsam zur Rosenstraße zurück.
Die Stadt wachte auf, doch ihr Kopf blieb bei dem Satz.

Am Mittag saß sie am Küchentisch und drehte den Stift zwischen den Fingern.
Sie schrieb den Satz in ihr Heft und setzte einen Rand darum, als sei er ein Bild.
Dann schrieb sie darunter ein einziges Wort mit einem Fragezeichen.

Warum.
Sie ließ die Seite offen und stand auf.
Ihr Blick fiel auf die Blechdose, in der noch der Geruch nach Brühe hing.

Gegen Abend ging sie hinunter auf die Straße.
Die Laterne im zweiten Stock brannte schon.
Der Hund saß da, als wäre der Tag nur eine Pause gewesen.

Almut setzte sich auf den Bordstein.
Sie hielt Abstand und blieb doch in seiner Nähe.
Er war groß und schlank, an den Schultern kräftig, an der Schnauze grauer als gestern.

Sie sprach nicht gleich.
Der Hund atmete ruhig und blickte zum Licht.
Die linke Vorderpfote stand ein wenig nach außen, als folgte sie einem alten Muster.

Sie nahm einen kleinen Lappen aus der Tasche.
Darin steckte die ovale Marke vom roten Halsband, das sie am Vorabend gesehen hatte.
Hartwig hatte es ihr am Mittag geliehen, ohne viele Worte.

Almut rieb die Gravur mit einem weichen Radiergummi, wie sie es bei alten Buchdeckeln getan hatte.
Sie pusterte den Staub weg und hielt die Marke schräg.
Die Sonne stand niedrig und gab genug Glanz.

Zuerst sah sie wieder nur R und A.
Dann füllten sich die Linien, als kämen sie von innen.
Fünf Buchstaben standen diesmal klar da.

Raban.
Der Hund hob den Kopf und sah sie an, als hätte das Wort Luft bekommen.
Seine Ohren bewegten sich kaum, doch in den Augen glomm ein kleines Feuer.

Almut sagte den Namen noch einmal, leise.
Raban blinzelte und legte die Schnauze wieder auf die Pfoten.
Er blieb in der Haltung, doch etwas in der Nähe war anders geworden.

Die Haustür von Nummer siebzehn ging auf.
Hartwig Falkenrath trat hinaus, langsam, als müsse er jeden Schritt erfinden.
Er trug eine zu große Strickjacke und hielt die Hand am Geländer.

Er blieb neben Almut stehen und tat so, als spräche er mit der Luft.
Sie zeigte ihm die Marke und sagte den Namen.
Hartwig nickte und schloss die Augen für einen Atemzug.

Jetzt haben Sie ihn, sagte er.
Der Name ist kein Befehl.
Er ist eine Brücke.

Sie gingen hinauf in seine Wohnung.
Die Messinglaterne auf der Fensterbank brannte still, als wüsste sie um ihre Aufgabe.
Daneben stand ein Holzrahmen mit dem Foto, das Almut schon gesehen hatte.

Hartwig öffnete eine Schublade.
Er holte einen Briefumschlag hervor, vergilbt an den Rändern, mit einem blauen Faden umwickelt.
Auf der Vorderseite stand mit runder Schrift ein Datum.

Januar 1997.
Er legte den Umschlag auf den Tisch und bat Almut, ihn zu öffnen.
Meine Hände taugen nicht mehr, sagte er.

Almut schnitt die Kante mit einem Buttermesser auf.
Sie zog zwei Seiten heraus, die nach Wachs rochen.
Die Buchstaben waren klar, doch die Tinte an manchen Stellen verwischt.

Mareike schrieb.
Sie schrieb von einem Winterabend am Wupperhang bei Clemenshammer.
Sie schrieb von einem Hund, der in der Kälte stand und nicht weiterging, als hielte ihn ein unsichtbares Seil.

Sie setzte eine Laterne auf das Fensterbrett und hob die Hand.
Der Hund hob den Kopf.
Am nächsten Abend tat sie es wieder, und wieder stand der Hund unten.

Er kam nicht, schrieb sie.
Aber er blieb.
Und im Bleiben lag eine Art Ankunft.

Almut las laut.
Hartwig hörte zu und sah nicht auf die Seiten, sondern in das brennende Glas.
Sein Atem ging flacher, doch seine Stimme war fest, als er sprach.

Sie musste im März ins Krankenhaus, sagte er.
Sie bat mich, die Laterne zu nehmen und sie wie damals zu stellen.
Nicht für mich, nicht für die Straße, sondern für ihn.

Almut strich mit den Fingern über die Faltung des Papiers.
Die Ränder bröselten leicht.
Sie legte den Brief in eine klare Mappe, die sie aus ihrer Tasche nahm.

Ich kann die Mappe da lassen, sagte sie.
Damit er nicht kaputtgeht.
Hartwig nickte und schob die Mappe an die Fensterbank, neben das rote Halsband.

Wer war Mareike für Sie, fragte Almut.
Hartwig stellte die Frage ins Zimmer zurück, als wollte er prüfen, ob sie richtig klingt.
Dann sagte er, sie habe ihm das Hören wiedergegeben.

Sie spielte Klavier, sagte er.
Nicht laut und nicht schnell.
Sie spielte so, dass die Stille nachher nicht wehtat.

Er schwieg und sah zu dem Bild mit dem Blechboot.
An der Wand hing noch ein zweites, kleiner, in einem Rahmen aus billigem Holz.
Darauf ein Ufer, graue Steine, ein Schatten, der wie ein Hund aussah.

Almut stand.
Sie trat ans Fenster, um den Hund unten zu sehen.
Raban rührte sich nicht.

Warum gerade ein Licht, fragte sie.
Weil ein Licht bleibt, sagte Hartwig.
Und weil ein Hund nicht lügt, wenn er auf ein Zeichen wartet.

Almut ging zur Tür.
Sie wollte Platz lassen, damit die Erinnerung atmen kann.
Auf der Schwelle blieb sie stehen.

Ich habe den Satz am Grab gelesen, sagte sie.
Hartwig hob den Kopf.
Er sah aus, als hätte jemand in ihm eine alte Uhr aufgezogen.

Das Licht im Fenster ist unser Versprechen, sagte Almut.
Hartwig nickte.
Es war der einzige Satz, den sie vor ihrem letzten Weg noch einmal laut gesagt hat.

Almut stieg die Treppe hinunter.
Die Luft im Hausflur war kühl und roch nach Seife.
Draußen saß Raban und schaute zum Glas.

Sie setzte sich wieder auf den Bordstein, nicht weit von ihm.
Sie nahm ihr Heft und schrieb den Namen.
Sie schrieb ihn groß, damit er nicht wegläuft.

Raban.
Der Hund drehte den Kopf und sah sie an.
In diesem Blick lag keine Bitte.

Ein Nachbar kam vorbei, den Almut noch nie gesehen hatte.
Ein schmaler Mann mit einem Aktenkoffer, der nicht zu ihm passte.
Er blieb stehen, sah zum Fenster und dann zu Raban.

Die Geschichte vom Zimmer da oben kenne ich, sagte er.
Er warf einen kurzen Blick auf Almut, als müsste er prüfen, ob sie zuhören darf.
Dann ging er weiter, ohne sich umzudrehen.

Der Abend wurde schwer.
Die Laterne brannte ruhig, doch die Zeit zog an ihr wie Wind an einer Fahne.
Almut spürte, wie Müdigkeit in die Knie kroch.

Dann geschah etwas, das die Regel brach.
Ein flackernder Schatten lief hinter den Gardinen entlang, anders als sonst.
Das Licht senkte sich für einen Atemzug und brannte wieder auf.

Raban stand auf.
Er trat einen halben Schritt vor und hob die Nase.
Ein leiser Laut löste sich aus ihm, nicht Heulen und nicht Bellen.

Almut sah nach oben.
Sie hörte nichts, doch die Luft im Treppenhaus schien ein anderes Gewicht zu haben.
Sie stand auf und legte die Hand an die Haustür.

In diesem Moment ging die Laterne aus.
Nicht langsam, wie in den anderen Nächten, sondern plötzlich, als hätte jemand das Glas zugedrückt.
Raban sprang nach vorn und blieb doch wie festgenagelt.

Almut rannte die Stufen hoch.
Sie klopfte an Hartwigs Tür und rief seinen Namen.
Keine Antwort.

Sie drückte die Klinke.
Die Tür gab nach und öffnete sich in einen Raum, der nach Wachs roch.
Auf dem Tisch lag der Brief in der klaren Mappe, daneben das rote Halsband.

Auf dem Boden lag etwas, das Almut erst im zweiten Blick sah.
Sie machte zwei Schritte und fühlte, wie der Boden wankte, obwohl er still lag.
Dann hörte sie unten auf der Straße ein einziges, langes Heulen.

Und in diesem Heulen lag die Frage, die keine Uhr beantworten kann.

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