🐾 Teil 4: Die Fragen ohne Antwort
Der Raum war still, als hätte jemand die Luft hingestellt und vergessen, sie wieder mitzunehmen.
Almut trat ein und sah Hartwig Falkenrath auf dem Boden liegen.
Sein rechter Arm lag seltsam angewinkelt, die Stirn war feucht.
Sie kniete neben ihn.
Sein Puls war da, aber er suchte den Takt.
In der Stille hörte sie draußen das lange Heulen von Raban.
Almut griff nach dem Telefon auf dem kleinen Schrank im Flur.
Sie wählte die Notrufnummer und sprach so ruhig, wie ihre Stimme es zuließ.
Sie nannte die Adresse in der Rosenstraße und sagte, dass ein älterer Mann gestürzt sei.
Während sie wartete, stand sie auf und ging zum Fenster.
Die Messinglaterne war dunkel, der Docht verkohlt.
Neben der Fensterbank stand eine kleine Flasche Petroleum, halb voll.
Ihre Finger zitterten, doch sie arbeiteten.
Sie drehte den Docht ein wenig heraus, schnitt die schwarze Kante mit einer kleinen Schere ab und befeuchtete ihn mit einem Tropfen Öl.
Das Streichholz sprang zweimal und brannte erst beim dritten Versuch.
Die Flamme war klein und gelb und fing an, das Glas zu lecken, bis es warm wurde.
Almut stellte die Laterne wieder an ihren Platz.
Draußen hörte das Heulen auf.
Hartwig regte sich.
Seine Lippen bewegten sich, aber es kam zuerst kein Ton.
Dann flüsterte er ein einziges Wort.
Licht.
Almut nahm seine Hand.
Ich bin da, sagte sie. Das Licht brennt wieder.
Die Klingel schreckte sie auf.
Zwei Sanitäter traten ein, eine Frau mit festem Blick und ein Mann mit nüchterner Stirn.
Sie packten aus, prüften, tasteten, stellten Fragen.
Almut nannte den Namen, das Alter, die Medikamente, soweit sie sie aus dem Badezimmer lesen konnte.
Die Frau stellte fest, dass der Herzschlag unruhig war, aber nicht blieb.
Der Mann legte eine Decke über Hartwigs Brust und sprach mit leiser, bestimmter Stimme.
Hartwig öffnete die Augen.
Er suchte nicht nach Gesichtern, sondern nach dem Fenster.
Als er die Laterne sah, schloss er die Lider und atmete durch.
Die Sanitäter bereiteten den Transport vor.
Sie fragten, ob Almut Angehörige sei.
Sie schüttelte den Kopf und sagte, sie sei nur die Nachbarin, die das Licht einschaltet.
Das ist auch eine Verwandtschaft, sagte die Frau und lächelte kurz.
Sie stellte ein paar Blätter auf den Tisch und bat um eine Unterschrift.
Almut unterschrieb, obwohl es eigentlich nicht ihr Name war, den man brauchte.
Hartwig griff nach Almuts Handgelenk.
Sein Griff war schwach, aber er hielt.
Lass es nicht dunkel werden, sagte er.
Ich bleibe, sagte Almut.
Sie half, die Wohnung abzuschließen, und steckte den Schlüssel in ihre Manteltasche.
Der Rettungswagen fuhr an, das Blaulicht malte kurze Striche an die Wände der alten Häuser.
Sie stand eine Weile im Treppenhaus und hörte die Stille wieder.
Dann ging sie zurück in die Wohnung und überprüfte die Flamme.
Die Laterne brannte ruhig, als hätte sie noch nie etwas anderes getan.
Unten auf der Straße saß Raban.
Sein Körper war nach vorn gestreckt, als lausche er einem tonlosen Lied.
Als Almut ans Fenster trat, hob er den Kopf und blieb dann wieder ruhig.
Sie setzte sich an den Küchentisch.
Der Brief in der klaren Mappe lag daneben, das rote Halsband darüber.
Daneben stand eine Blechdose, auf deren Deckel jemand mit Bleistift geschrieben hatte.
Jeden Abend zur Dämmerung.
Darunter ein Haken, dahinter ein winziger Punkt.
Es war keine Bitte, es war eine Anweisung.
Die Nacht wurde lang.
Almut schrieb die Uhrzeiten auf.
Sie goss einen Tropfen Petroleum nach, wenn die Flamme kleiner wurde.
Gegen Mitternacht klopfte es an der Tür.
Ein Mann stand im Flur, schlank, der Aktenkoffer wieder in der Hand.
Er stellte sich vor.
Roman Adelmann, sagte er.
Er wohnte schräg gegenüber und kannte die Musik, die früher durch die Wand ging.
Seine Stimme trug den Ton eines Menschen, der zu viel allein redet.
Ist alles gut, fragte er.
Almut erzählte, dass Hartwig im Klinikum sei.
Sie sagte, sie bleibe bei der Laterne.
Roman nickte und sah an ihr vorbei zum Fenster.
Er erzählte, dass Mareike manchmal abends eine kleine Melodie gespielt habe.
Ein paar Töne nur, immer mit der rechten Hand.
Er summte die Töne, ohne den Mund zu öffnen.
Sie klangen wie zwei Schritte vor und einer zurück.
Als wäre die Musik selbst unsicher und bliebe trotzdem.
Auf einem Notenblatt stand ein Satz, sagte Roman.
Licht bleibt, bis er gehen kann.
Er dachte nach und fügte hinzu, dass er nie wusste, wer er war.
Almut holte tief Luft.
Sie erzählte ihm von Raban, von der Marke, vom Grab und vom Satz im Stein.
Roman hörte zu, ohne sie zu unterbrechen.
Er schaute noch einmal zur Laterne.
Er sagte leise, dass man einen Hund nicht überreden könne.
Man müsse ihm etwas zeigen, das größer ist als Warten.
Als er gegangen war, blieb Almut am Fenster.
Sie nahm das rote Halsband und legte es neben die Laterne.
Der Messingrand spiegelte das rote Leder, als wäre es Blut und Feuer zugleich.
Kurz vor Morgen graute der Himmel.
Die Flamme war klein geworden, doch sie hielt sich.
Almut schlief in der Stuhllehne ein und wachte vom Telefon auf.
Es war das Klinikum.
Hartwig war wach, sagten sie.
Er fragte nach Frau Heidkamp.
Sie ging hin, noch ehe die Stadt richtig atmete.
Das Klinikum lag grauweiß im ersten Licht, der Eingang roch nach Kaffee und Desinfektion.
Ein Pfleger brachte sie in ein Zimmer, das nach Metall klang.
Hartwig lag bleich da, aber seine Augen waren bei ihr.
Er fragte nicht nach der Laterne.
Er wusste es einfach.
Ich habe etwas versteckt, sagte er.
Im Klavier, nicht unter dem Deckel, sondern in der Leiste über den Tasten.
Dort steckt ein kurzer Zettel.
Almut nickte.
Er atmete einmal schwer und ließ die Hand sinken.
Bitte, sagte er. Zeig ihm das richtige Licht.
Sie versprach es.
Draußen auf dem Parkplatz blies ein Wind durch Pappeln.
Der Himmel war klar und zeigte die Kälte, die kommen würde.
Zurück in der Wohnung öffnete sie das Klavier.
Die Tasten waren glatt, die hohen klangen stumpf.
Mit der Fingerspitze tastete sie die Leiste ab.
Etwas Kleines steckte dahinter.
Sie zog es langsam heraus.
Es war ein schmaler Zettel, an den Rändern braun.
Sie las die Worte.
Sie waren kurz und trugen doch einen ganzen Weg.
An der Wupper am Hang bei Clemenshammer. Das Zeichen dort. Nicht im Fenster.
Almut setzte sich.
Sie hörte in den Raum.
Die Laterne knisterte leise.
Sie legte den Zettel in die Mappe und nahm das rote Halsband in die Hand.
Es roch noch nach Fell und nach einer warmen Hand.
Dann ging sie die Stufen hinunter.
Raban saß an seinem Platz.
Als sie das Halsband hob, stellte er die Ohren.
Er stand auf und machte einen Schritt.
Almut blieb ruhig.
Sie sprach leise seinen Namen.
Raban ließ den Blick kurz an ihr vorbei wandern, als suche er eine zweite Stimme.
Sie legte das Halsband wieder hin und stellte Wasser daneben.
Er trank nicht.
Er setzte sich wieder und schaute zum Licht.
Am Nachmittag ging Almut zu Konrad Spindler auf den Friedhof.
Sie erzählte ihm von Hartwig und vom Zettel im Klavier.
Er hörte zu und sah auf den Boden.
Das Wasser vergisst nicht, sagte er.
Aber es verzeiht besser als die Erde.
Er bot an, am Abend mitzukommen.
Die Stunde zwischen Tag und Nacht kam wie eine Hand, die sich auf eine Schulter legt.
Almut trug die Laterne, die Mappe und das Halsband in einer alten Tragetasche.
Konrad ging neben ihr, schweigend, mit einem Blick, der Wege kannte.
Sie blieben an der Rosenstraße stehen.
Almut stellte die Laterne auf die Fensterbank und ließ die Flamme klein brennen.
Raban hob den Kopf und folgte jedem ihrer Schritte.
Dann hob sie die Laterne wieder auf.
Sie hielt sie so, dass das Glas zum Hund zeigte.
Raban stand auf und machte zwei Schritte.
Komm, sagte Almut.
Ihre Stimme war ruhig und schwer zugleich.
Sie zeigte die Richtung zur Wupper.
Raban sah zum Fenster, dann zur Laterne.
Er setzte den Vorderlauf, den mit dem alten Fehler, auf die Straße.
Er folgte.
Der Weg zum Hang bei Clemenshammer war feucht und roch nach Holz.
Die Pappeln standen still, als hörten sie zu.
Das Wasser trug das letzte Licht, wie eine leise Antwort.
Almut stellte die Laterne auf einen flachen Stein.
Die Flamme schob ihre Farbe über das Glas.
Raban blieb stehen und hob die Nase.
Er kannte den Geruch.
Sein Körper wurde ruhig.
Er setzte sich so, wie er in der Rosenstraße gesessen hatte.
Konrad blieb in Abstand.
Almut nahm das rote Halsband und legte es neben die Laterne.
Sie sagte den Satz aus dem Stein so leise, dass er nur für das Wasser bestimmt war.
Das Licht im Fenster ist unser Versprechen.
Aber heute ist das Fenster das Ufer.
Und das Versprechen ist derselbe Weg.
Raban legte die Schnauze auf die Pfoten.
Seine Augen wurden weich, als hörte er eine Stimme, die aus einer anderen Zeit kam.
Die Flamme brannte ruhig.
Im Schatten der Pappeln bewegte sich etwas.
Es war nur ein Vogel, der das Ufer wechselte.
Und doch fühlte Almut, dass hier etwas wartete, das sie noch nicht sehen konnte.
Sie blieb, bis die Flamme kleiner wurde.
Dann hob sie die Laterne und ging einen Schritt zurück.
Raban blieb sitzen.
Er hob den Kopf, sah zum Wasser und gab einen Laut, der nach Abschied klang.
Er stand auf, langsam, und machte zwei Schritte in die Dunkelheit, nicht zum Friedhof und nicht zur Straße.
Sein Schatten wurde Teil des Ufers.
Almut atmete ein, als wolle sie ihn festhalten, und atmete aus, als müsste sie ihn lassen.
Konrad legte ihr die Hand auf den Ärmel.
Manchmal ist gehen die ehrlichste Form von Treue, sagte er.
Sie nickte und hob die Laterne.
Das Glas spiegelte für einen Augenblick etwas, das wie ein Gesicht aussah.
Als sie genauer hinsah, war es nur Wasser.
Hinter ihnen lag die Rosenstraße, vor ihnen lag der Hang.
Der Abend trug die Dinge an ihren Platz.
Und irgendwo in dieser Ruhe fehlte plötzlich ein vertrautes Geräusch.
Raban antwortete nicht mehr auf die Flamme.
Er hatte einen anderen Weg gefunden.
Doch der Weg erzählte noch nicht, wohin er führte.