🐾 Teil 5: Das Versprechen im Dunkel
Der Morgen kam, als hätte ihn jemand leise an die Fensterscheibe gelegt.
Almut wachte mit dem Gefühl auf, dass ein Platz neben ihr leer war.
Sie dachte an das Ufer, an die Flamme, an Rabans Schatten.
Der Kaffee schmeckte nach Metall.
Sie trank ihn ohne Milch und schrieb die Uhrzeit in ihr Heft.
Dann legte sie die Mappe mit dem Zettel auf den Tisch und strich mit der Hand darüber.
Konrad Spindler wartete am Friedhofstor.
Er hatte die Schaufel heute nicht dabei.
Seine Hände steckten in Handschuhen, die nach Erde rochen.
Sie gingen schweigend zur Wupper.
Der Pfad war rutschig, die Luft hing schwer in den Weiden.
Das Wasser trug einen grauen Glanz, als hielt es etwas zurück.
Am Hang bei Clemenshammer blieben sie stehen.
Der Stein, auf den Almut die Laterne gestellt hatte, war dunkel vom Nachtlicht.
Daneben sah sie eine Spur, als hätte ein Körper dort gelegen und geatmet.
Konrad zeigte auf die Weide.
Ein alter Haken steckte in einer Astgabel, vom Rost angefressen, aber fest.
Darunter zwei schmale Kerben im Holz, als hätte eine Hand mit einem Messer gezählt.
Das muss das Zeichen sein, sagte Almut.
Konrad nickte und zog die Handschuhe aus.
Er tastete den Haken ab, als müsse er ihn wecken.
Zwischen den Wurzeln lag etwas Helles.
Almut kniete und hob eine Handvoll Haare auf.
Graues Fell, lang und rau, vom Tau schwer.
Er war hier, sagte sie.
Konrad sah auf den Fluss.
Er sagte nur, dass Wasser Gedächtnis in Ringen speichert.
Almut holte die Laterne aus der Tasche.
Sie prüfte den Docht, den sie in der Nacht geschnitten hatte.
Die Flamme sprang an, klein und klar, und kroch in das Glas.
Sie hing die Laterne an den Haken.
Die Farbe des Lichts war nicht wie in der Wohnung.
Sie war tiefer, als hätte das Wasser seinen eigenen Ton hineingegeben.
Am Nachmittag ging Almut ins Klinikum.
Die Flure rochen nach Seife und nach dem, was bleibt, wenn Stimmen schweigen.
Hartwig lag am Fenster und sah in eine Helligkeit, die nicht in den Raum passte.
Er fragte nicht nach Raban.
Er fragte nach dem Haken an der Weide.
Almut erzählte ihm, was sie gesehen hatte.
Er schloss die Augen und nickte langsam.
Mareike hat das dort begonnen, sagte er.
Sie hing die Laterne dorthin, als der Hund noch keine Wohnung kannte.
Er sprach stockend, aber die Worte waren sauber.
An einem Abend im Januar brachte sie Raban ans Ufer.
Er stand zitternd und sah nicht hin, was vor ihm lag.
Sie hielt ihm das Licht hin, sagte Hartwig.
Er machte zwei Schritte.
Dann blieb er und schaute auf ihre Hand, nicht auf das Glas.
Und sie versprach ihm, dass es dieses Zeichen immer geben würde.
Nicht wegen des Heims, sondern wegen des Weges.
Er sprach das Wort Weg, als sei es ein Name.
Almut setzte sich auf den Stuhl, der nach Holz roch.
Mareike war die mit dem ruhigen Klavier, sagte sie leise.
Hartwig lächelte, und in dem Lächeln lag ein Winter, der nicht mehr weh tat.
Sie mussten das Ordnungsamt rufen, sagte eine Schwester an der Tür.
Jemand habe gemeldet, dass ein großer Hund jeden Abend die Straße blockiere.
Es klang wie eine Notiz, die an den Rand gehört, aber mitten auf der Seite stand.
Almut ging heim mit einem Druck in der Brust.
Vor Nummer siebzehn traf sie Roman Adelmann mit dem Aktenkoffer.
Er flüsterte, dass zwei junge Männer gestern Steine geworfen hätten.
Nur kleine, sagte er, aber die Art der Hand war nicht klein.
Sie trafen die Mauer, nicht den Hund.
Doch man hört an einem Klang, wen jemand treffen wollte.
Almut hielt die Laterne fest, als könne sie ein Tier schützen.
Sie stellte sie in der Küche auf den Tisch und füllte Petroleum nach.
Dann kochte sie Hühnerfleisch in wenig Wasser, bis der Geruch die Wohnung wärmte.
Als der Abend kam, war die Rosenstraße dünn wie Papier.
Raban war nicht da.
Der Platz gegenüber dem Fenster war leer.
Almut wartete, bis die Laterne an der Fensterbank die Gardine gold färbte.
Sie wartete noch fünf Minuten.
Dann nahm sie die Tragetasche und ging los.
Der Weg zum Hang war kürzer als am Vortag.
Sie kannte jetzt, wohin der Atem der Bäume weht.
Am Ufer hängte sie die Laterne an den Haken.
Das Licht stand still.
Es zeichnete einen Kreis auf das Wasser, der am Rand ausfranste.
Almut legte das rote Halsband auf den Stein und setzte sich.
Es passierte zuerst nichts.
Das Wasser tat so, als wäre es nur Wasser.
Die Weide tat so, als wäre sie nur Baum.
Dann hörte Almut ein sanftes Schnauben.
Sie drehte den Kopf nicht, sie ließ das Geräusch zu ihr kommen.
Ein Schatten löste sich aus dem Gebüsch und wurde zu einem Körper.
Raban trat ins Licht.
Seine linke Vorderpfote setzte er wie immer nach außen.
Er blieb stehen und hob die Nase, als suche er eine Spur im Wind.
Almut hob die Hände nicht.
Sie sagte nur leise seinen Namen und legte das gekochte Fleisch auf den Stein.
Der Geruch stieg und blieb unter der Weide hängen.
Raban wartete.
Er setzte sich und schaute zuerst zum Wasser, dann zur Laterne.
Die Ohren lagen nicht an, sie horchten.
Es dauerte lange, bis er aufstand.
Er trat so vorsichtig an den Stein, als könnte er ihn verletzen.
Er nahm ein Stück Fleisch mit den Zähnen, legte es wieder ab und nahm es noch einmal.
Almut atmete aus.
Sie redete nicht und dachte kaum.
Sie war nur da.
Hinter ihr knackte ein Zweig.
Konrad stand am Rand des Pfades, den Blick tief und ruhig.
Er machte keinen Schritt mehr.
Raban fraß jetzt langsam.
Zwischen den Bissen sah er zur Laterne und dann zum Fluss.
Als das Fleisch weg war, trat er zur Wurzel der Weide.
Er begann zu kratzen.
Nicht wild, sondern mit einem Muster, das er kannte.
Holzsplitter lösten sich, nasser Sand trat hervor.
Almut kniete und leuchtete mit einem kleinen Taschenlicht.
Etwas Metallisches blinkte zwischen den Fasern.
Raban schob die Schnauze hinein und zog etwas hervor.
Es war das kleine Blechboot.
Der Bug war eingedrückt, der Anker am Bug glänzte stumpf.
Sand klebte an den Seiten, als hätte das Boot eine Reise hinter sich.
Almut hielt die Luft an.
Raban legte das Boot auf den Stein, trat zurück und setzte sich.
Er sah sie an und dann die Laterne.
Im Boot lag ein Bündel, fest umwickelt mit einem grauen Band.
Das Band war nass, aber nicht morsch.
Almut löste es mit klammen Fingern.
Innen lagen zwei Dinge.
Ein kleiner Schlüssel mit einem runden Kopf.
Und ein gefalteter Zettel, dünn wie Zwiebelschale.
Ihre Hände zitterten, als sie die Faltung öffnete.
Die Schrift war klein und sicher.
Sie las den ersten Satz leise, als spräche sie ihn einer Tür ins Ohr.
Wenn das Fenster zu hoch ist, folge dem Wasser nach Hause.
Sie spürte, wie der Boden unter ihr fester wurde.
Konrad trat näher, um mit den Augen zu lesen.
Darunter stand eine Adresse und eine Uhrzeit.
Rosenstraße siebzehn, Hinterhof, Brunnen, bei Dämmerung.
Keine Unterschrift, nur ein winziger Anker in Bleistift.
Almut blickte zu Raban.
Sein Kopf lag wieder auf den Pfoten.
Er sah nicht müde aus, sondern angekommen.
Sie legte den Schlüssel in die Mappe und faltete den Zettel zurück.
Dann nahm sie das Halsband in die Hand.
Das Leder fühlte sich wärmer an als eben.
Darf ich, fragte sie.
Die Frage war nicht an einen Hund gerichtet und doch nur für ihn.
Raban stand auf und trat einen halben Schritt vor.
Er ließ die Schnauze an ihrem Ärmel ruhen.
Sein Blick war ruhig, nicht weich und nicht hart.
Almut hob das Halsband und legte es ihm um.
Das Klicken war kaum zu hören.
Raban zuckte nicht.
Er sah nur an ihr vorbei zur Laterne.
Sie löste die Laterne vom Haken.
Der Kreis auf dem Wasser fiel in sich zusammen und floß als dünne Spur davon.
Almut trug das Glas, Konrad ging hinterher.
Der Rückweg war still.
Raban lief neben ihr, nicht eng und nicht fern.
Seine Pfoten fanden eine alte Ordnung im Pflaster.
Am Hinterhof von Nummer siebzehn stand der Brunnen mit der steinernen Schale.
Efeu hing über den Rand und tropfte leise.
Die Luft roch nach Eisen und nassem Mörtel.
Almut sah sich um.
Hinter dem Brunnen war eine kleine Tür in der Mauer.
Sie war so niedrig, dass man sich bücken musste, um sie zu sehen.
Sie hielt den Schlüssel fest.
Roman Adelmann kam gerade in den Hof und blieb stehen, ohne zu sprechen.
Sein Aktenkoffer berührte fast den Boden.
Der Schlüssel passte.
Das Schloss drehte sich schwer, dann gab die Tür nach.
Ein kalter Zug strich aus der Dunkelheit.
Raban machte einen Schritt nach vorn und blieb dann, als hätte ihn jemand bei seinem Namen berührt.
Almut hob die Laterne, damit das Licht hineinfiel.
Hinter der Tür begann eine schmale Treppe, die abwärts führte.
Sie atmete einmal tief.
Dann setzte sie den Fuß auf die erste Stufe.
Raban folgte ohne Laut.
Konrad stellte sich neben die offene Tür.
Er legte die Hand an die Mauer, als prüfe er ihren Atem.
Roman blieb im Hof, den Blick auf das Licht.
Almut zählte die Stufen nicht.
Der Geruch nach feuchtem Stein wurde stärker.
Irgendwo unten klang Wasser, als spräche es in Schalen.
Sie erreichten einen kleinen Raum.
Die Laterne war das einzige Licht.
An der Wand hing ein Rahmen ohne Bild.
Almut hob die Flamme höher.
Die Wand dahinter glänzte feucht.
Man sah Linien, als hätte jemand sie mit dem Rücken der Hand gezogen.
Raban trat vor.
Er legte eine Pfote gegen die Mauer und hob die Nase.
Dann gab er einen Laut von sich, der nach Erkennen klang.
Die Feuchtigkeit zog in Almuts Knie.
Sie drehte sich halb um und rief leise nach oben, dass alles gut sei.
Ihre Stimme kam als Echo zurück.
Sie trat näher an die Wand.
In die Feuchte waren Buchstaben gezeichnet, flach und doch deutlich.
Sie fuhr mit der Fingerspitze darüber und fühlte die Zartheit einer hastigen Hand.
Das Wort stand da, das die Straße seit Wochen trug.
Versprechen.
Darunter eine kleine Linie, kaum sichtbar.
Almut senkte die Laterne.
Raban stellte sich neben sie und berührte ihre Wade mit dem Fell.
Sie hörten das Wasser noch immer.
Hinter der Mauer klang etwas, das nicht Wasser war.
Ein leiser, metallischer Ton, als berühre ein Schlüssel ein anderes Metall.
Almut hob den Kopf.
Der Hof über ihnen war still.
Konrad wartete, Roman atmete.
Unten in der Dunkelheit machte etwas den ersten Schritt.