🐾 Teil 6: Die Schatten der Vergangenheit
Der Ton hinter der Mauer war nur ein Hauch, doch er blieb im Ohr wie ein Tropfen im Becken.
Almut hob die Laterne höher.
Das Glas war warm, die Luft kalt und feucht.
Raban stand dicht an ihrem Bein.
Sie spürte sein Fell an der Wade, eine ruhige, schwere Nähe.
Er atmete langsam, als zähle er Schritte.
Der leere Rahmen an der Wand war mit zwei winzigen Nägeln befestigt.
Almut fuhr mit der Fingerspitze darunter entlang.
Etwas Metallisches kratzte leise.
Sie klopfte sacht gegen den Putz.
Der Klang war hohl, so als läge dort eine verborgene Tasche.
Raban legte die Pfote auf den Stein und sah sie an.
Almut hob den Rahmen ab.
Dahinter lag eine schmale Eisenplatte, so groß wie eine Hand.
Ein kleines Schlüsselloch saß darin, rund und alt.
Der Schlüssel in ihrer Mappe war kalt wie Wasser.
Sie steckte ihn hinein und drehte langsam.
Die Platte gab nach und sprang nicht, sie schob sich millimeterweise zur Seite.
Ein Geruch kam heraus, der an Öl und altes Salz erinnerte.
Almut hob die Laterne dicht heran.
In der Nische lag ein Paket aus grauem Segeltuch, mit Bindfaden umwickelt.
Sie zog es hervor und legte es auf den Boden.
Der Faden löste sich schwer, als seien Jahre darauf gelegen.
Darunter kam eine kleine Schiffsglocke zum Vorschein, ein Logbuch in blauer Leinwand und eine Sturmlampe aus grünem Glas.
Raban beugte die Schnauze vor.
Die Glocke klang kaum, nur ein metallisches Räuspern.
Auf dem Rand stand ein eingeritzter Name.
Mareike.
Almut fuhr mit dem Daumen darüber.
Der Schnitt war flach und doch sicher.
Sie öffnete das Logbuch.
Die erste Seite trug ein Datum.
November 1996.
Die Schrift war ruhig und ohne Eile.
Sie las leise, damit die Wörter im Raum bleiben.
Eine Wohnung am Fluss, ein Hund ohne Heim, ein Licht am Fenster, ein zweites Licht am Wasser.
Ich stelle die Laterne ins Fenster, schrieb Mareike.
Er bleibt unten, bis sie erlischt.
Am Fluss lernt er den Geruch, der stärker ist als jede Tür.
Weiter hinten stand ein kurzer Eintrag.
Wenn ich nicht mehr kann, wird jemand den Schlüssel finden.
Das Zeichen ist die Glocke.
Almut schlug die nächste Seite auf.
Zwischen zwei Zeilen lag ein dünnes Halstuch.
Es roch nach Wachs und nach einem müden Sommer.
Sie legte das Tuch beiseite und nahm die Sturmlampe in die Hände.
Das Glas war schwer und nicht ganz klar.
Der Docht war frisch, als habe ihn jemand für später aufgehoben.
Sie hängte die Schiffsglocke an einen kleinen Nagel über der Nische.
Ihr Klang war noch immer nur ein Hauch.
Doch Raban hob den Kopf und lauschte.
Von oben drang ein gedämpfter Ruf.
Konrad Spindler beugte sich an der Treppe hinunter und fragte, ob alles in Ordnung sei.
Almut rief ja, mit einer Stimme, die sich größer anfühlte als sie selbst.
Sie packte Logbuch und Sturmlampe in die Tragetasche.
Dann verschloss sie die Nische wieder und setzte den Rahmen auf.
Der Raum wurde für einen Moment dunkler, als hätte die Wand sich eine Geschichte gemerkt.
Als sie hinaufging, traf sie im Hof auf Roman Adelmann.
Er stand reglos, der Aktenkoffer an die Wade gelehnt.
Er sah auf die Laterne in Almuts Hand und dann auf Rabans Halsband.
Sie erzählte kurz, was sie gefunden hatte.
Roman legte die Stirn in Falten und sagte die zwei Takte, die er schon einmal gesummt hatte.
Die Schiffsglocke gab ein helles Echo, ganz leise, als antworte ein Uhrwerk.
Ein Mann in grauer Jacke betrat den Hof.
Er trug ein Klemmbrett und hatte den Blick eines Menschen, der Listen liebt.
Er stellte sich als Herr Brix vom Ordnungsamt vor.
Es gebe Beschwerden, sagte er.
Ein großer Hund sitze allabendlich auf der Straße.
Es müsse eine Lösung gefunden werden, die die Ordnung wahre.
Almut nickte, ohne den Blick zu senken.
Sie legte ihm das rote Halsband in die Hand und sagte, es sei Ordnung genug.
Herr Brix räusperte sich, als müsse er eine neue Zeile finden, und reichte das Halsband wortlos zurück.
Konrad trat neben Almut.
Seine Anwesenheit war wie eine Mauer aus ruhiger Erde.
Roman sah zur Tür und dann zum Himmel.
Die Dämmerung setzte sich auf den Hof wie feiner Staub.
Almut hob die Sturmlampe.
Ihr Licht war anders als das der Messinglaterne, tiefer und grüner.
Sie ging voraus durch die Rosenstraße.
Konrad folgte, Roman blieb ein wenig zurück, und Herr Brix ging schließlich mit, ohne zu schreiben.
Raban lief an Almuts linker Seite, der Schritt sicher und leise.
Der Pfad zum Wupperhang war schon vertraut.
Die Weiden neigten sich, als wollten sie zuhören.
Das Wasser trug einen ruhigen Ton.
Almut hängte die Sturmlampe an den alten Haken in der Weide.
Das Glas glühte wie eine tiefe Quelle.
Raban setzte sich und hob die Nase, als riefe ihn etwas, das lange warten konnte.
Almut schlug das Logbuch an der Stelle auf, wo ein dünner Knoten im Faden saß.
Januar 1997, las sie.
Heute hat er das Wasser angesehen, ohne zu zittern.
Sie ließ die Hand sinken.
Raban rührte sich nicht.
Nur seine Ohren bewegten sich, wie kleine Segel.
Konrad stand seitlich, die Hände in den Taschen.
Roman hatte die Glocke aus der Tasche genommen und hielt sie unsicher.
Herr Brix sah auf seine Schuhe, als sei dort die ordentliche Antwort.
Almut nahm die Glocke.
Sie schwang sie kaum.
Ein einziger Ton löste sich, hell und weich.
Raban stand auf.
Er trat näher an die Weide.
Sein Blick war auf das Glas gerichtet, nicht auf die Menschen.
Almut flüsterte den Satz vom Stein.
Das Licht im Fenster ist unser Versprechen.
Heute ist das Fenster das Ufer.
Raban machte zwei Schritte.
Er stand jetzt im flachen Kies.
Wasser berührte seine Pfoten und zog wieder ab.
Almut hielt die Luft an, bis die Stille klein wurde.
Raban senkte den Kopf und roch an der Spur, die die Flamme auf dem Wasser zeichnete.
Dann hob er den Blick und sah in eine Richtung, die nicht auf der Karte stand.
Hinter dem Stamm war eine Vertiefung.
Zwischen den Wurzeln lag Holz, das nicht zur Weide gehörte.
Ein alter Kasten, halb verlandet.
Raban kratzte an der Kante.
Ein Deckel gab nach und schob sich hoch.
Drinnen lag ein Bündel aus Leinen und Wachs.
Almut nahm es heraus.
Sie legte es auf den Stein und wickelte das Wachs ab.
Ein Zweitschlüssel kam zum Vorschein und ein kurzes Band mit einer Messingmarke.
Auf der Marke war ein Wort.
Heim.
Darunter ein kleines Kreuz.
Roman zog die Luft scharf ein.
Konrad legte die Hand auf den Stein, als zahle er still.
Herr Brix trat einen Schritt zurück und sagte nichts mehr.
Almut las den nächsten Eintrag im Logbuch.
Wenn er das Wasser wieder ansieht, bring ihn nach Heim.
Nicht das Heim der Menschen, sondern den Ort, den er so nennt.
Sie suchte mit den Augen den Uferstreifen ab.
Kein Schild, kein Stein, nur Weiden und Wasser.
Raban sah sie kurz an und richtete den Blick wieder in dieselbe Ecke.
Am jenseitigen Ufer stand ein steinerner Pfeiler.
Moos lag wie ein alter Mantel darauf.
In der Mitte eine flache Einritzung.
Almut hob die Sturmlampe.
Das Licht reichte knapp hinüber.
Die Einritzung war kein Buchstabe, sondern ein Zeichen.
Ein Anker.
Sie erinnerte sich an das kleine Bild im Logbuch und an den eingeritzten Rand der Glocke.
Ihr Herz wurde schwer und gleichzeitig leicht.
Sie löste die Laterne vom Haken.
Sie hielt sie vor sich, so dass das Glas auf der Wasserhaut lag.
Raban ging neben ihr her, Schritt für Schritt.
Am Rand des Kieses blieb sie stehen.
Sie setzte die Lampe auf einen niedrigeren Ast, damit das Licht tiefer fiel.
Der Schein zog eine schmale Bahn, die direkt auf den Pfeiler zeigte.
Raban trat in die Bahn.
Er stand bis zu den Fesseln im Wasser.
Seine Pfoten suchten Halt und fanden ihn.
Almut hob die Glocke und ließ einen Ton fallen.
Es klang, als setze jemand einen Punkt in einen langen Satz.
Raban hob die Schnauze und antwortete mit einem Laut, der alt klang.
In diesem Moment bewegte sich etwas am Pfeiler.
Ein Schatten löste sich und wurde zu einer Gestalt.
Sie war klein und gebückt und trug einen Mantel, der tropfte.
Almut spürte, wie ihre Hände kalt wurden.
Konrad trat einen halben Schritt vor.
Roman hielt den Atem an.
Die Gestalt hob die Hand.
Kein Gruß, eher ein Zeichen, das jemand gelernt hat und nie verlernt.
Raban stand still wie ein Stein, der atmet.
Die Stimme der Gestalt war leise und kam quer über das Wasser.
Sie sagte nur ein Wort.
Raban.
Der Hund machte einen Schritt.
Das Wasser reichte nun höher.
Er blieb nicht stehen.
Almut wollte rufen und tat es nicht.
Der Ton der Glocke war noch warm.
Der Pfeiler schimmerte unter der Feuchte.
Die Gestalt bewegte sich nicht.
Sie stand wie ein Ufer, das nicht flieht.
Raban ging weiter.
Ein kalter Luftzug strich über die Weide.
Die Sturmlampe flackerte kurz und fing sich.
Ein einzelnes Blatt fiel ins Wasser und fuhr mit.
Almut machte einen Schritt nach vorn.
Sie spürte das Kieseln unter der Sohle.
Konrad legte ihr die Hand an den Ellbogen.
Sie sah zu Raban und sah, dass sein Blick nicht mehr suchte.
Er sah, wie jemand ankommt, der nicht mehr gehen muss.
Seine Ohren waren ruhig.
Die Gestalt hob erneut die Hand und zeigte auf den Pfeiler.
Dort leuchtete etwas auf, so schwach, als sei es nur Erinnerung.
Eine kleine Laterne, eingelassen in Stein.
Raban stand nun zwischen zwei Lichtern.
Hinter ihm das Glas der Sturmlampe.
Vor ihm das blasse Feuer im Pfeiler.
Almut hob die Glocke.
Sie wollte einen zweiten Ton geben und wusste, dass er alles ändern würde.
Ihre Finger waren feucht.
Sie atmete ein.
Der Wind hielt inne.
Das Wasser schwieg.
Der Ton löste sich.
Er flog flach über die Oberfläche und traf den Stein.
Raban setzte den nächsten Schritt.
Und in der Tiefe unter dem Pfeiler begann etwas zu leuchten, das keiner von ihnen je gesehen hatte.