🐾 Teil 7: Die Erinnerung, die nicht vergeht
Das Leuchten unter dem Pfeiler war zuerst nur ein Atem.
Es wuchs nicht, es zitterte nur.
Das Wasser hielt es wie eine offene Hand.
Almut hob die Sturmlampe höher.
Das Grün im Glas antwortete der Tiefe mit einem stillen Echo.
Raban stand im flachen Kies und wartete auf den nächsten Ton.
Konrad Spindler schwieg.
Sein Blick hing am Ufer, als lausche er einer alten Uhr.
Roman Adelmann hielt die Glocke fest, als könnte sie fortschwimmen.
Die Gestalt am jenseitigen Ufer hob nochmals die Hand.
Ihre Finger waren schmal und ruhten, als hätten sie viel getragen.
Die Stimme kam wieder über das Wasser.
Raban.
Mehr sagte sie nicht.
Doch der Name war wie ein Seil, das nicht schneidet.
Raban machte einen Schritt.
Seine Pfoten tasteten den Grund, fanden Stein, fanden Halt.
Ein zweiter Schritt setzte sich neben den ersten.
Das Licht im Pfeiler antwortete.
Es sank tiefer und wurde klarer, als lege es eine Bahn frei.
Almut sah, wie die Strömung an einer flachen Kante brach.
Eine Furt, sagte Konrad leise.
Er deutete auf dunkle Platten im Wasser.
Basalt, der in Reihen liegt, seit man hier Steine geholt hat.
Roman atmete aus, als habe er Luft vergessen.
Herr Brix vom Ordnungsamt trat einen Schritt zurück.
Sein Klemmbrett senkte sich, als sei es plötzlich zu schwer.
Raban ging weiter.
Er setzte die linke Vorderpfote ein wenig nach außen, so wie immer.
Das Wasser hob und senkte sein Fell.
Die Gestalt blieb, wo sie war.
Sie war kleiner, als Almut zuerst gedacht hatte.
Das nasse Haar klebte am Mantelkragen.
Almut hob die Glocke.
Sie ließ keinen vollen Schlag fallen, nur einen leisen Anschlag.
Es reichte.
Raban hob die Schnauze und antwortete mit einem tiefen Laut.
Dann ging er, als sei der Weg schon in seinen Knochen.
Der Pfeiler hielt das Licht still.
Er erreichte das jenseitige Ufer.
Die Gestalt kniete und legte ihm die Hand an die Brust.
Raban blieb und schloss für einen Atemzug die Augen.
Almut spürte, wie etwas in ihr nachließ.
Kein Seil riss, es lockerte sich nur.
Sie hob die Lampe ein wenig, damit der Kreis im Wasser nicht brach.
Kommen Sie herüber, rief die Gestalt.
Die Stimme war jetzt klarer.
Oben beim Wehr führt ein schmaler Steg.
Konrad nickte.
Er zeigte stromaufwärts, wo die Weiden lichter standen.
Roman ging voraus, als trüge er etwas, das brennen konnte.
Der Steg war schmal und feucht.
Unter den Brettern zog die Wupper ruhig, als rede sie mit sich selbst.
Almut ging langsam und trug die Lampe vor sich.
Auf der anderen Seite führte ein Pfad am Zaun entlang.
Ein Gatter stand offen, als habe jemand nur kurz Holz geholt.
Hinter dem Zaun lagen Parzellen mit stillen Hütten.
Die Gestalt wartete neben dem Pfeiler.
Sie war eine Frau mit schmalen Schultern und einem Gesicht voll feiner Falten.
Ihr Blick war hell.
Ich bin Ottilie Nienhaus, sagte sie.
Kleingartenanlage Honsberger Hang, Parzelle achtunddreißig.
Mareike war meine Nachbarin am Wasser.
Almut stellte die Lampe auf einen flachen Stein.
Der Schein legte sich an Ottilies Mantel und an Rabans Flanke.
Raban atmete ruhig.
Ottilie berührte den Pfeiler.
Zwischen zwei Steinen saß eine kleine Linse aus dickem Glas.
Dahinter war eine winzige Kammer.
Es ist keine Zauberei, sagte sie.
Mareike hat einen Spiegel dahinter gesetzt.
Wenn hier eine Kerze brennt, fällt das Licht unter die Wasserlinie.
Konrad nickte.
Er strich über den nassen Stein und roch an seinen Fingern.
Petroleum, sagte er. Und Wachs.
Ottilie sah zu Raban.
Er kennt das seit dem ersten Winter, sagte sie.
Fenster heißt warten. Ufer heißt kommen.
Almut hörte in sich hinein.
Die Wörter setzten sich an ihren Platz.
Fenster und Ufer, Warten und Kommen.
Wir haben den Weg gehalten, sagte Ottilie.
Hartwig am Fenster, ich am Ufer.
Wenn einer von uns schwach war, blieb der andere.
Roman legte die Glocke auf den Stein.
Er fragte, wie lange das so gehe.
Ottilie antwortete nicht gleich.
Seit Januar siebenundneunzig, sagte sie dann.
Seit der Nacht, als die Laterne zum ersten Mal im Pfeiler stand.
Seit Raban nicht mehr weglief, wenn das Wasser sprach.
Almut sah in den Garten hinter dem Zaun.
Eine kleine Hütte stand dort, mit einem Fenster, das milchig war.
Daneben ein Tisch aus rauem Holz und eine Zinkschüssel.
Das ist Heim, sagte Ottilie und öffnete das Gatter.
Sie ging voran und legte die Hand an Rabans Halsband.
Er folgte ihr, ohne an der Leine zu ziehen.
Die Hütte roch nach Holz und nassem Stoff.
Auf einer Bank lag eine karierte Decke.
Daneben eine Bürste mit abgewetzten Borsten.
Raban sprang nicht.
Er stieg hinauf wie ein Hund, der einen Ort kennt.
Er schnupperte an der Decke und legte sich.
Almut stand in der Tür.
Die Lampe auf ihrer Hand warf einen milden Schein an die Wand.
Dort hing ein kleines Bild.
Es zeigte die Wupper im Winter.
Im Vordergrund ein Hund, der aussieht wie Raban, nur jünger.
Daneben eine Frau mit einem Schal, der im Wind lag.
Mareike, sagte Ottilie leise.
Sie malte nicht gut, aber ehrlich.
Das Bild gehört an diesen Ort.
Auf dem Tisch stand eine Blechdose.
Ein Anker war in den Deckel geritzt.
Ottilie stellte sie vor Almut.
Für den Abend, wenn er nicht mehr warten will, sagte sie.
So hat sie es genannt.
Wir haben ihn heute erreicht.
Almut öffnete die Dose.
Darinnen lag ein Brief, sorgfältig gefaltet.
Die Tinte war weich und klar.
Liebe Almut, stand da.
Wenn du das liest, hat das Wasser den Hund heimgebracht.
Du trägst das Licht, das ich nicht mehr halten konnte.
Almut hielt den Atem.
Sie kannte die Schrift nicht und kannte doch den Ton.
Es war die ruhige Stimme aus dem Logbuch.
Gib ihm hier zu essen, schrieb Mareike.
Nicht an der Straße, nicht im Treppenhaus.
Hier riecht das Brot nach Erde und nicht nach Vorübergehen.
Darunter stand ein zweiter Abschnitt.
Bitte bring die Glocke zu Hartwig, wenn seine Hand leer wird.
Er muss sie einmal hören, ohne sie zu sehen.
Almut legte den Brief zurück.
Sie spürte Wärme in der Brust und Kälte in den Fingern.
Raban hob den Kopf und legte ihn wieder auf die Decke.
Ottilie holte eine emaillierte Schüssel unter der Bank.
Sie füllte Wasser hinein und stellte sie neben die Decke.
Raban trank langsam.
Herr Brix stand noch am Zaun.
Sein Blick war anders geworden.
Er sagte, er werde keine Anzeige schreiben.
Roman trat einen Schritt in die Hütte.
Er berührte die Decke, als wolle er den Stoff lesen.
Er fragte nicht weiter.
Konrad sah auf den Pfeiler.
Das Licht in der Linse war klein geworden.
Die Sturmlampe am Weidenhaken flackerte kurz und stand wieder still.
Ottilie lächelte müde.
Wir sind nicht viele, sagte sie.
Aber manchmal reicht das.
Almut nickte.
Sie spürte, wie sehr der Abend in ihr stand.
Es war ein volles Gewicht und es tat nicht weh.
Das Telefon in ihrer Manteltasche vibrierte.
Der Ton war nicht laut und doch scharf.
Almut nahm ab und hörte sofort die Klinikluft in der Leitung.
Hartwig hat gefragt, sagte die Stimme.
Er fragt nach der Glocke.
Und ob das Licht brennt.
Almut schloss die Augen.
Dann sah sie zu Ottilie.
Ich muss gehen, sagte sie.
Ottilie nickte.
Sie strich Raban über die Brust und legte ihm die Bürste neben die Pfote.
Komm später wieder, sagte sie. Er schläft besser, wenn jemand atmet.
Almut nahm die Glocke und die Sturmlampe.
Konrad ging mit ihr bis zum Steg.
Roman blieb bei Ottilie und dem Hund.
Der Weg zurück war dunkel, doch der Himmel trug eine dünne Kante von Licht.
Die Wupper klang, als wiederhole sie ein Wort.
Nicht laut, nur sicher.
Im Klinikum roch es nach Metall und Müdigkeit.
Hartwig lag halb aufrecht, die Augen offen.
Er sah nicht zum Fenster, er sah auf ihre Hände.
Die Glocke, flüsterte er.
Almut hob sie an sein Ohr und ließ einen Ton fallen.
Er war hell und weich, wie ein Schritt vor einer Schwelle.
Hartwigs Hand bewegte sich.
Er tastete nicht, er hörte.
Sein Gesicht wurde still.
Sie erzählte ihm vom Pfeiler, von der Linse, von Ottilie.
Sie sagte, dass Raban in Heim liege und atme.
Die Worte setzten sich um sein Bett wie kleine Laternen.
Er lächelte, kurz und wahr.
Dann sah er an Almut vorbei.
Sein Blick blieb an etwas, das sie nicht sah.
Wenn ich nicht mehr kann, sagte er leise, dann trägt er euch nach Hause.
Er meinte nicht den Hund und doch auch ihn.
Seine Finger ruhten.
Almut blieb, bis er einschlief.
Sie saß still und hielt die Glocke auf dem Schoß.
Draußen wurde es Nacht über Remscheid.
Im Hof von Nummer siebzehn brannte kein Fenster.
Am Ufer von Clemenshammer lag ein Hund auf einer Decke und hörte einem Fluss zu.
In einer Hütte wartete eine Bürste neben einer Schüssel.
Almut trat hinaus in die kühle Luft.
Sie hob das Gesicht und roch Wachs, nasse Erde, Metall.
Die Stadt war kleiner geworden und näher.
Auf dem Heimweg blieb sie an der Rosenstraße stehen.
Der Bordstein war leer.
Der Platz vor dem Fenster hatte seine Arbeit getan.
Sie stellte die Sturmlampe wieder an die Fensterbank.
Nicht als Zeichen, nur als Dank.
Die Flamme nahm den Raum an.
In der Stille hörte sie einen Laut im Treppenhaus.
Kein Schritt und kein Ruf.
Nur ein kurzes Anschlagen, als streife etwas Metall den Putz.
Sie öffnete die Tür zu Hartwigs Wohnung.
Der Raum roch nach Wachs und Papier.
Auf dem Tisch lag das Logbuch, auf der Fensterbank das rote Halsband.
Die Laterne brannte noch.
Doch neben dem Glas stand jetzt etwas, das zuvor nicht dort gewesen war.
Eine kleine Dose mit einem Anker, die sie noch nie gesehen hatte.
Sie öffnete den Deckel.
Darinnen lag ein Schlüssel, schwarz vom Alter.
Und ein Zettel mit fünf Wörtern.
Morgen braucht Raban das Fenster.