🐾 Teil 8: Das Herz einer Nachbarschaft
Der Morgen war blass und roch nach kaltem Staub.
Almut saß am Küchentisch und starrte auf die kleine Dose mit dem Anker.
Der schwarze Schlüssel lag neben dem Zettel, als wüsste er schon, wohin er gehörte.
Morgen braucht Raban das Fenster.
Sie las die fünf Wörter noch einmal.
Sie fühlte, wie sie in ihr langsam warm wurden.
Im Klinikum meldete sich eine Schwester mit ruhiger Stimme.
Hartwig habe die Nacht überstanden, aber seine Kräfte seien dünn geworden.
Er frage immer wieder nach dem Licht.
Almut dankte und legte auf.
Sie nahm den Schlüssel in die Hand.
Er war schwerer, als er aussah.
In der Wohnung stand die Luft still.
Die Messinglaterne auf der Fensterbank war geputzt und bereit.
Das rote Halsband lag daneben, als höre es zu.
Almut probierte das Schloss am Buffet.
Der Schlüssel griff nicht.
Sie probierte die kleine Kommode neben dem Klavier.
Nichts.
Sie kniete vor die Klavierbank.
An der Unterseite war eine schmale Klappe, mit Farbe überstrichen.
Der Schlüssel ging hinein wie in weiches Holz.
Ein Zittern lief durch ihre Finger.
Die Klappe sprang auf.
Innen lag ein Umschlag, sorgfältig mit Faden gebunden.
Auf der Vorderseite stand eine klare Schrift.
Für den letzten Abend.
Almut setzte sich auf den Boden.
Sie löste den Faden und zog die Blätter heraus.
Der Raum roch nach Wachs und Papier.
Wenn das Warten schwer wird, nimm die Laterne an das Fenster und öffne den Flügel zwei Finger breit.
Lege das rote Halsband auf den Sims, so dass der Geruch hinunter fällt.
Lass die Glocke einmal klingen, wenn er sitzt, einmal, wenn die Dämmerung ganz wird, einmal, wenn das Licht erlischt.
Die Zeilen waren nicht lang, aber sie ruhten fest.
Darunter stand ein letzter Satz.
Wenn das Wasser ruft, halte ihn nicht.
Almut legte die Blätter ordentlich zurück.
Sie strich mit dem Handrücken über die Klavierbank.
Dann schloss sie die Klappe und stand auf.
Sie rief Ottilie Nienhaus an.
Die Gärtnerin nahm nach dem ersten Ton ab.
Ihr Atem klang wie eine Tür, die langsam aufgeht.
Heute Abend, sagte Almut.
Ottilie antwortete, dass Raban schläft und dass sie ihn rechtzeitig bringe.
Ihre Stimme war müde und hell zugleich.
Konrad Spindler kam gegen Mittag vorbei.
Er brachte eine kleine Flasche Petroleum in der Jackentasche.
Er stellte sie neben die Laterne, als stelle er Brot auf den Tisch.
Roman Adelmann erschien mit seinem Aktenkoffer.
Er sagte nicht viel.
Er trug den Blick eines Menschen, der versteht, wann man still sein muss.
Herr Brix trat in den Hof und sah an die Fensterfront.
Er räusperte sich und sagte nur, er werde am Abend im Viertel bleiben.
Falls jemand unruhig werde, sei er da.
Die Stunden bis zur Dämmerung waren lang wie eine schmale Brücke.
Almut putzte das Glas der Laterne und schnitt den Docht neu.
Sie legte das rote Halsband so hin, dass es die Messingkante berührte.
Kurz vor Abend kam Ottilie mit Raban in den Hof.
Der Hund ging langsam, als wolle er keinen Schatten wecken.
Seine Augen suchten die Höhe.
Almut hielt die Tür.
Die Treppen waren eng und rochen nach Seife.
Raban setzte jede Pfote, als kenne er jede Kerbe.
Im Zimmer stellte Almut die Laterne an das Fenster.
Sie öffnete den Flügel zwei Finger breit.
Die Luft von draußen roch nach nassem Stein.
Sie legte das rote Halsband auf den Sims.
Der Messingring berührte das Holz.
Der Geruch von Leder mischte sich mit Wachs.
Ottilie stand einen Schritt zurück.
Konrad stellte sich an die Tür.
Roman blieb am Klavier und hielt die Glocke mit beiden Händen.
Almut zündete die Laterne an.
Die Flamme nahm das Glas an und wurde ruhig.
Auf der Straße wurde der Tag dünner.
Raban setzte sich unten auf seinen alten Platz.
Er sah nicht nach links und nicht nach rechts.
Er sah nur in das Licht.
Almut hob die Glocke.
Sie ließ einen Ton fallen, hell und weich.
Auf der Straße hob Raban den Kopf, dann legte er ihn wieder auf die Pfoten.
Die Dämmerung kroch in die Rosenstraße.
Fenster wurden gelb und wieder dunkel.
Der Himmel trug einen Rest von Blau.
Das Telefon summte kurz in Almuts Mantel.
Die Schwester aus dem Klinikum bat, die Leitung offen zu lassen.
Hartwig höre mit und wolle das Geräusch der Glocke hören.
Almut legte das Gerät auf den Tisch und schob es dichter an das Fenster.
Sie nahm die Glocke ein zweites Mal in die Hand.
Der Ton lief durch den Raum und fiel die Treppe hinab.
Unten regte sich nichts.
Nur Rabans Atem im Takt der Straße.
Die Laterne brannte wie ein ruhiges Herz.
Ein paar Nachbarn blieben stehen.
Niemand redete laut.
Gesichter erschienen in Fenstern und verschwanden wieder.
Ottilie stellte eine Schüssel Wasser in den Hof.
Konrad ging die Treppe hinab und rückte sie näher an die Tür.
Roman legte die Hand auf das Logbuch, ohne es zu öffnen.
Die Dämmerung wurde ganz.
Die Luft fühlte sich an wie die Innenseite einer Muschel.
Almut hob die Glocke zum zweiten Mal.
Der Klang war tiefer.
Er blieb an der Gardine hängen und rutschte dann hinaus.
Auf der Straße hob Raban die Ohren und sah kurz an das Mauerwerk.
Die Schwester im Telefon flüsterte, dass Hartwig lächle.
Er liege ruhig.
Seine Finger hätten sich bewegt, als zähle er etwas, das niemand sehe.
Almut stand nun am Fenster und sah hinab.
Die Laterne machte einen weichen Kreis auf das Pflaster.
Ein Blatt trieb durch den Lichtfleck und blieb am Rinnstein hängen.
Das Warten wurde länger als alle Tage davor.
Es war kein schweres Warten.
Es war ein Warten, das weiß, was es hält.
Der Atem im Zimmer wurde leiser.
Niemand hustete, niemand trat auf.
Nur die Flamme knisterte kurz und wurde wieder still.
Almut dachte an die Zeile im Brief.
Wenn das Wasser ruft, halte ihn nicht.
Sie legte die freie Hand auf den Fensterrahmen.
Dann erlosch irgendwo in der Nachbarschaft ein Licht.
Es war nicht ihres, und doch merkte sie es.
Die Straße wurde einen Hauch dunkler.
Almut hob die Glocke zum dritten Mal.
Der Ton war dünn wie ein Faden und hielt doch alles zusammen.
Er flog hinunter zu Raban.
Der Hund hob den Kopf, wie er es immer tat.
Er blieb einen Augenblick lang, als überprüfe er die Welt.
Dann stand er auf.
Er schaute zum Fenster, und sein Blick hielt Almut fest.
Sie spürte einen Zug durch den Körper, der nicht weh tat.
Ottilie legte die Hand an Almuts Schulter.
Raban drehte sich und ging nicht zum Fluss.
Er verschwand in den Hof, als wisse er einen kürzeren Weg.
Sein Schritt war sicher.
Almut lief die Treppe hinunter.
Konrad öffnete die kleine Tür in der Mauer.
Der Geruch nach feuchtem Stein kam ihnen entgegen.
Raban stieg die Stufen hinab, ohne zu zögern.
Das Licht aus der Laterne folgte ihnen als schmaler Schein.
Unten wartete der kleine Raum mit dem leeren Rahmen.
Raban stellte sich vor die Wand mit dem Wort, das dort in die Feuchte gezogen war.
Versprechen.
Seine Pfote berührte den Stein.
Almut hob die Laterne.
Das Glas war warm.
Der Kreis des Lichts legte sich auf die Schrift.
Neben dem alten Schlüsselloch, das sie schon kannte, war eine zweite Öffnung, ganz klein, mit Rost um den Rand.
Sie hatte sie am ersten Abend übersehen.
Jetzt sah sie, dass der Rand die Form eines Ankers trug.
Der schwarze Schlüssel aus der Dose passte.
Er ging schwer hinein und drehte sich, als müsste er etwas wecken, das lange geschlafen hatte.
Ein Riegel sprang im Mauerwerk.
Ein schmales Fach ging auf.
Darin lag eine dünne Schachtel aus Blech, an der ein roter Faden hing.
Almut hob sie heraus und legte sie auf den Boden.
Raban setzte sich und wartete.
Sein Blick war an der Schachtel.
Sein Atem war ruhig.
Almut öffnete den Deckel.
Oben lag ein zurechtgeschnittenes Stück Gardine.
Darunter eine kleine Broschüre aus Karton, mit Bleistift beschriftet.
Fensterlied.
Sie blätterte auf.
Es waren vier Takte in einfacher Notenschrift, nur rechte Hand, wie Roman es einmal gesummt hatte.
In der Schachtel lag noch ein zweites Blatt.
Es trug nur einen Satz in Mareikes Schrift.
Wenn du dieses Lied hörst, darfst du gehen, wohin dein Herz dich ruft.
Aus dem Telefon an Almuts Ohr kam ein leises Rascheln.
Die Schwester flüsterte, dass Hartwigs Atem flacher werde.
Er höre zu.
Almut hob die Glocke.
Sie schlug nicht.
Sie stellte sie neben die Laterne und legte die Finger auf die Tasten des Klaviers in ihrem Kopf.
Sie summte die vier Takte, so leise, dass sie kaum ihre eigene Stimme hörte.
Roman setzte an der Treppe fort und trug den Ton durch den Schacht.
Ottilie hielt die Luft an.
Der kleine Raum vibrierte wie eine Schnecke, die das Meer hört.
Raban hob die Schnauze und schloss für einen Herzschlag die Augen.
Dann stand er auf.
Er drehte sich zur Treppe und ging hinauf.
Sein Schritt hatte etwas von Abschied und etwas von Ankunft.
Oben wartete die Gardine am offenen Fenster.
Almut folgte ihm in den Hof.
Die Straße war still, als wäre sie auf Watte gebaut.
Die Laterne brannte noch.
Raban setzte sich auf seinen Platz und sah ein letztes Mal hinauf.
Sein Blick war nicht mehr der Blick eines Wächters.
Es war der Blick eines, der etwas hinter sich lässt.
Das Telefon vibrierte in ihrer Hand.
Die Schwester sagte nur zwei Wörter.
Er lächelt.
Die Flamme flackerte, ganz leicht.
Dann wurde sie wieder ruhig.
Raban atmete einmal tief und stand auf.
Er ging nicht schnell.
Er ging, als trüge er etwas, das nicht fällt.
Er bog in den Hof ein, um den Weg zum Garten zu nehmen.
Almut legte die Hand an den Fensterrahmen.
Sie spürte die Kälte des Holzes und die Wärme des Glases.
Sie wusste, dass dieser Abend nicht mehr wiederkommt.
Ottilie nahm die Glocke an sich.
Konrad blieb an der Tür stehen.
Roman sah zu Boden und suchte nach dem richtigen Wort.
Keiner sagte es.
Die Straße hielt es selbst.
Es klang wie ein sehr leises Danke.
Almut blies die Laterne nicht aus.
Sie ließ sie brennen, bis die Nacht sie nahm.
Unten auf dem Pflaster blieb der Kreis aus Licht noch eine Weile als Fleck.
Spät, als die Fenster wieder dunkel waren, lag die kleine Broschüre neben dem Logbuch.
Das Wort Fensterlied stand offen.
Der rote Faden aus der Schachtel lag wie eine Spur über der Tischkante.
In der Ferne hörte man Wasser.
Es war nicht laut, aber es war nah.
Und in dem Wasser war der nächste Schritt schon zu hören.