Das Licht im Fenster | Ein Hund, ein Licht im Fenster und eine Nachbarin, die eine Geschichte voller Treue entdeckt

🐾 Teil 9: Der letzte Abend im Licht

Die Nacht hatte Spuren gelassen, als Almut am frühen Morgen aufstand.
Die Rosenstraße war leer, kein Hund auf dem Bordstein, kein Schatten unter dem Fenster.
Das Licht in der Laterne war längst erloschen, nur ein dünner Rußrand erinnerte an die Flamme.

Almut stand lange am Fenster, den roten Faden zwischen den Fingern.
Sie wusste, dass er ein Ende bedeutete und zugleich einen Anfang.
Das Fensterlied lag auf dem Tisch, die Noten wie eine leise Stimme, die keiner übertönen konnte.

Im Klinikum war es stiller als sonst.
Die Schwester führte Almut in das Zimmer, in dem Hartwig Falkenrath lag.
Sein Gesicht war eingefallen, aber seine Augen öffneten sich, als er sie sah.

Die Glocke, flüsterte er.
Almut hob sie an sein Ohr, und sie ließ den Ton fallen.
Er war weich und kurz, doch er füllte das Zimmer wie eine Hand, die sanft auf die Brust gelegt wird.

Hartwig atmete tiefer.
Das Fenster, sagte er.
Almut nickte. Sie erzählte ihm von der Broschüre, vom Fensterlied, von Raban, der am Vorabend in den Hof zurückgekehrt war.

Seine Finger bewegten sich, als spiele er die Takte auf einer unsichtbaren Tastatur.
Nur vier, sagte er leise. Mehr braucht man nicht.
Sein Blick war klar, so als habe er das Ziel schon erreicht.

Almut setzte sich neben ihn.
Sie las ihm den Brief von Mareike noch einmal vor.
Er hörte, und während sie las, schloss er die Augen.

Das Versprechen, murmelte er.
Dann ruhte seine Hand in ihrer, als wäre sie eine Ankerleine, die sich löst.
Die Schwester trat ein und nickte still.

Später, als Almut auf der Straße stand, schien die Sonne durch die Wolken.
Es war kein helles Licht, eher ein matter Glanz, aber er reichte.
Sie trug die Glocke in der Tasche und ging langsam zur Rosenstraße zurück.

Vor Nummer siebzehn standen Nachbarn.
Roman Adelmann, Konrad Spindler und auch Ottilie Nienhaus waren dort.
Sogar Herr Brix hatte den Weg gefunden, ohne Klemmbrett diesmal.

Almut erzählte ihnen, dass Hartwig gegangen war.
Niemand sprach laut.
Ein paar nickten, einer zog den Hut, eine Frau wischte sich die Stirn.

Raban lag im Hof auf der karierte Decke, die Ottilie gebracht hatte.
Er hob den Kopf, als Almut eintrat, und seine Augen waren ruhig.
Sie setzte sich neben ihn und legte die Hand auf das Fell.

Er weiß es, sagte Ottilie.
Hunde wissen es immer zuerst.
Almut nickte, während ihr die Kehle eng wurde.

Am Nachmittag trafen sie sich am Ufer bei Clemenshammer.
Die Sturmlampe hing noch am Haken der Weide, der Stein war dunkel vom Regen.
Die Glocke wurde in die Mitte gelegt, das Logbuch daneben, das Fensterlied darauf.

Konrad sprach ein paar Worte, keine Rede, nur Sätze wie Steine.
Roman summte die vier Takte, unsicher, aber wahr.
Ottilie legte eine weiße Blüte ins Wasser, die der Fluss sofort mitnahm.

Almut stellte die Laterne neben den Pfeiler.
Sie zündete sie an, und die Flamme flackerte kurz im Wind.
Dann stand sie still, so als wüsste sie, dass dies ihr letzter Abend am Wasser war.

Raban saß am Rand und blickte ins Licht.
Er legte die Schnauze auf die Pfoten, wie er es immer getan hatte.
Sein Atem war schwer, aber nicht gehetzt.

Almut ging zu ihm und legte ihm das rote Halsband um.
Diesmal klickte es lauter als sonst.
Sie spürte, wie ihre Finger zitterten, und sie strich einmal über seinen Kopf.

Er wird bleiben, sagte Ottilie.
Nicht am Fenster, nicht im Hof.
Hier, wo Wasser und Licht sich treffen.

Almut verstand.
Das Fenster war zu einem Ufer geworden, das Ufer zu einem Heim.
Die Wege hatten sich geschlossen.

Sie setzten sich im Kreis um den Stein.
Niemand redete lange.
Jeder ließ nur ein Stück Stille neben sich liegen.

Als die Dämmerung kam, hob Almut die Glocke.
Sie schlug einen letzten Ton, klar und hell.
Der Ton zog über den Fluss und blieb dort hängen wie ein schwacher Stern.

Raban hob den Kopf.
Er sah nicht mehr zum Licht, er sah über den Fluss hinaus.
Dann legte er sich nieder, die Augen halb geschlossen, das Fell von der Laterne sanft beschienen.

Die Flamme im Glas brannte noch eine Weile.
Dann flackerte sie, als habe sie ihre Aufgabe erfüllt.
Almut blies sie nicht aus, sie ließ sie sterben, wie sie gekommen war.

In der Stille hörte man das Wasser.
Es sprach leise und nahm jedes Geräusch auf.
Es klang, als sage es: Ich trage, was ihr nicht tragen könnt.

Sie blieben noch, bis der Himmel dunkel war.
Dann gingen sie schweigend zurück in die Stadt.
Nur Raban blieb am Ufer.

Almut drehte sich einmal um.
Sie sah seinen Körper im schwachen Mondlicht, still und ruhig.
Er war nicht allein, das Wasser hielt ihn.

Zu Hause stellte sie die Glocke auf die Fensterbank.
Daneben legte sie das Fensterlied und das Logbuch.
Die Laterne blieb leer, das Glas schwarz.

Sie setzte sich an den Tisch und schrieb ins Heft.
Heute hat das Versprechen sein Ende gefunden.
Und im Ende lag der Anfang.

Am nächsten Morgen war der Bordstein vor Nummer siebzehn leer.
Kein Hund wartete, kein Blick hielt das Fenster.
Doch in der Luft lag ein Geruch von Wachs, Fell und Wasser.

Almut wusste, dass er bleiben würde.
Nicht im Stein, nicht im Holz, sondern in der Stille, die stärker war als Worte.
Ein Versprechen, das gehalten worden war.

Und tief in ihr hörte sie die vier Takte, die nie mehr enden mussten.
Das Fensterlied war nun auch in ihrem Herzen.
Sie wusste, dass sie es eines Tages weitersummen würde.

Als die Sonne durch die Wolken brach, schloss sie das Heft.
Die Rosenstraße war nicht mehr dieselbe, und doch war sie es.
Denn ein Hund hatte ihr gezeigt, dass Treue ein Weg ist, kein Ort.

Und dieser Weg blieb, auch wenn die Flamme erloschen war.

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