Das Notizbuch, das unsere Besonderheiten beschützte und drei Generationen miteinander verband

An dem Abend, an dem meine Schwiegermutter zum ersten Mal meinen Namen vergaß, stand ich in ihrer kleinen Berliner Küche, die nach Braten und Zimt roch, und hielt das dicke Notizbuch in der Hand, in dem sie das ganze Leben unserer Familie gesammelt hatte.

„Wie heißt du noch mal?“ fragte Inge und runzelte die Stirn, als wäre mein Gesicht eine bekannte Melodie, deren Text sie nicht mehr ganz zusammenbekam.

Mein Herz rutschte in die Knie.

Ich zwang mich zu lächeln.

„Ich bin es, Inge. Marie“, sagte ich leise. „Die Frau von Lukas.“

Sie blinzelte, suchte in meinem Gesicht, dann wanderte ihr Blick zu dem Notizbuch in meiner Hand. Das Gummiband war ausgeleiert, die Ecken abgegriffen, die Seiten voll mit Flecken von Soße und Kaffee.

Ich schlug es auf, mehr um mich zu beruhigen als alles andere.

Zwischen „Tobias – verträgt keinen Pfeffer“ und „Anna – hasst Rosinen, sagt es aber nie“ stand mein Name:

„Marie – keine Zitrusfrüchte, kein weißer Fisch, mag warme Suppen im Winter, ist schnell überfordert von zu vielen Leuten am Tisch.“

Daneben hatte jemand ein kleines Herz gemalt. Ihre zittrige Schrift.

Mir schossen Tränen in die Augen, weil ich plötzlich wieder ganz deutlich den ersten Tag vor mir sah, an dem ich diese Küche betreten hatte.

Damals war ich nur „die neue Freundin von Lukas“.

Ich stand unsicher im Flur, noch mit Mantel, die Hände zu fest ineinander verschränkt. Ich hatte Angst vor Fragen über Hochzeit, Kinder, Karriere – alles, woran deutsche Schwiegermütter in meinen Klischees Interesse hatten.

Stattdessen kam Inge auf mich zu, wischte sich die Hände an einer karierten Schürze ab und sagte:

„Hast du irgendwelche Allergien, Marie? Oder Sachen, die du wirklich gar nicht essen kannst? Und sag ruhig auch das, was du einfach nicht magst.“

Ich war so überrascht, dass ich lachte.

„Ähm … also … Zitrusfrüchte gehen gar nicht, ich bekomme Ausschlag. Und weißen Fisch … besonders so aus dem See … kann ich nicht mal riechen.“

Ich wartete auf das typische Augenrollen, das ich von früher kannte. Stattdessen nickte sie nur ernst, griff in die Schublade und holte das Notizbuch heraus.

„Mein kleines Gedächtnis“, erklärte sie und schrieb sorgfältig „Marie“ hin. „Ich habe einen Mann, drei Söhne, Schwiegertöchter, Enkel. Einer ist glutenfrei, eine verträgt keine Nüsse, ein anderer kriegt Migräne von rohen Zwiebeln. Wenn ich mir das alles nicht aufschreibe, fühlt sich irgendjemand am Ende ausgeschlossen.“

Sie schaute auf, direkt zu mir.

„Niemand soll sich schämen müssen, ‚schwierig‘ zu sein“, sagte sie. „Man muss niemanden verstehen, aber man muss ihn ernst nehmen.“

Ein paar Monate später, Lukas und ich waren bereits verlobt, saß ich bei ihrem Hochzeitstag mit am großen Tisch.

Überall standen Schüsseln und Platten, klassische deutsche Küche, aber alles wirkte irgendwie anders organisiert.

Neben jedem Gericht steckte ein kleiner Zettel:

„ohne Nüsse“, „laktosefrei“, „vegan“, „ohne Zwiebeln“.

Vor meinem Teller stand eine Schüssel Suppe mit einem Zettel:

„ohne Zitrone, ohne weißen Fisch, extra Petersilie für Marie“.

Ich starrte darauf und spürte, wie sich etwas in mir löste, ein alter Knoten aus Rechtfertigungen und Erklärungen.

Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich am Tisch nicht sagen: „Das kann ich leider nicht essen, tut mir leid.“ Es war alles schon für mich mitgedacht worden.

„Danke“, flüsterte ich, als Inge sich neben mich stellte. „Dass du dir so viel Mühe machst.“

Sie winkte ab.

„Ach, die Welt da draußen ist anstrengend genug“, meinte sie. „Am Tisch soll niemand kämpfen müssen. Hier darf jeder einfach so sein, wie er ist.“

Jahre vergingen.

Lukas und ich heirateten, die Familie wurde größer, die Einträge im Notizbuch auch. Vor jedem Fest saß Inge am Küchentisch, blätterte durch die Seiten, zog Linien, ergänzte:

„Julia – jetzt vegetarisch“,

„Paul – probiert seit Kurzem doch Käse, aber bitte mild“.

Das Notizbuch wurde zum inoffiziellen Familiengesetz: Wer einmal drin stand, gehörte dazu.

Dann kam der erste Riss.

Es war eine kleine Geburtstagsfeier, nichts Großes. Inge stand neben Lukas, eine Torte in der Hand, und wollte ihn den Nachbarn vorstellen.

Sie lächelte und sagte:

„Das ist mein … mein…“

Sie blieb hängen.

Ihr Blick wurde hilflos.

„Lukas, Mama“, half er nach, mit einem Lachen, das an den Rändern zitterte.

Später im Auto sagte er:

„Sie war nur müde. Sie wird eben älter.“

Aber in seiner Stimme lag dieselbe Angst, die in meinem Bauch saß.

Die Diagnose kam ein paar Monate später, klar und kühl wie ein ärztlicher Bericht nun mal ist.

Inge klebte Zettel an Türen: „Herd aus“, „Schlüssel im Korb“, „Mittwoch kommt Marie“.

Das Notizbuch wanderte: mal auf dem Küchentisch, mal im Kühlschrank, einmal fand ich es zwischen Schuhen im Flur.

Als der Dezember kam, sprach Lukas das Thema an.

„Vielleicht sollten wir dieses Jahr einfach im Restaurant essen“, sagte er. „Es ist zu viel für sie.“

Ich sah auf das Notizbuch, das offen vor mir lag. Namen, Allergien, kleine Kommentare, liebevolle Pfeile und Ausrufezeichen.

Ich hörte ihre Stimme: „Am Tisch soll niemand kämpfen müssen.“

„Lass es uns bei ihr machen“, sagte ich. „Aber diesmal koche ich. Nach ihrem Buch.“

In den Wochen vor Heiligabend saß ich jeden Abend in ihrer Küche.

Ich las jeden Eintrag, jeden Zusatz. Zwischen fettigen Fingerabdrücken stand:

„Tobias behauptet, er isst alles, verträgt aber keinen Pfeffer. Bitte merken!“

Und unter meinem Namen hatte sie später ergänzt:

„Marie – vermisst ihre Eltern an Feiertagen, fragt selten um Hilfe, braucht jemanden, der ihr zwischendurch sagt, dass sie gut genug ist.“

Ich legte die Stirn auf die Seite und weinte leise.

Sie hatte nicht nur mein Essen gesehen, sie hatte mich gesehen.

Am 24. Dezember roch die Wohnung wieder wie früher: nach Braten, nach Gebäck, nach etwas mit Zimt.

Ich rührte in Töpfen, Lukas deckte den Tisch, klebte die kleinen Zettel hin, genau wie seine Mutter es immer getan hatte.

Inge saß in ihrem Sessel, kleiner und zerbrechlicher geworden, die Hände im Schoß.

Als wir das Essen auftrugen, wanderte ihr Blick über den Tisch.

„Hab ich das alles gemacht?“ fragte sie leise.

Ich schob ihr das Notizbuch hin.

„Diesmal war ich dran“, sagte ich. „Aber du hast mir alles beigebracht.“

Sie blätterte, Seite für Seite.

Die Seiten raschelten wie altes Seidenpapier.

„So viele Dinge“, murmelte sie. „So viele Besonderheiten.“

Dann sah sie zu mir, und für einen Moment war ihr Blick klar wie früher.

„Weißt du, warum ich das alles aufgeschrieben habe?“

Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich glaubte, es zu wissen.

„Weil die Leute heute so schnell sind“, sagte sie. „Wer leise ist oder anders, wird einfach überrollt. Ich wollte, dass hier keiner das Gefühl hat, ein Problem zu sein, nur weil er etwas nicht verträgt – oder etwas braucht.“

Sie legte ihre kalte Hand auf meine.

„Du gehörst jetzt zu denen, die aufpassen“, flüsterte sie. „Vergiss das nicht, Marie.“

Später, als alle gegangen waren und Lukas den Müll runterbrachte, setzte ich mich allein an den Tisch.

Das Notizbuch lag vor mir, schwer und vertraut.

Ich suchte die letzte leere Seite und nahm den Stift.

Langsam schrieb ich:

„Inge – verträgt keine langen Tage mehr, braucht Hilfe in der Küche. Braucht unbedingt einen Platz am Kopfende des Tisches und jemanden, der ihr zuhört, auch wenn die Worte durcheinander geraten.“

Ich starrte auf die Zeilen und merkte, wie mir wieder die Tränen kamen.

Dieses Buch war nie nur eine Liste von Allergien gewesen.

Es war der Beweis, dass jemand sich die Mühe gemacht hatte, jeden einzelnen ernst zu nehmen.

In einer Welt, in der alle immer schneller werden, hatte Inge sich die Zeit genommen, uns aufzuschreiben – nicht als Probleme, sondern als Menschen.

Vielleicht, dachte ich, braucht jede Familie so ein kleines, dickes Notizbuch.

Nicht für perfekte Rezepte.

Sondern als Versprechen:

Hier wirst du gesehen. Genau so, wie du bist.

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