Ein paar Jahre nach jenem Heiligabend, an dem ich zum ersten Mal nach Inges Notizbuch gekocht hatte, merkte ich, dass ihre Krankheit nicht nur ihren Alltag veränderte, sondern auch die Art, wie unsere Familie am Tisch zusammensaß.
Und ich musste entscheiden, ob das dicke, alte Buch mit uns mitwächst oder leise im Küchenschrank verschwindet.
Inge wurde schneller müde.
Sie verwechselte Wochentage, manchmal auch Jahreszeiten.
Sie fragte im Juli, ob wir bald die Adventskerzen anzünden, und stand im November mit einer Gießkanne am Balkon, weil „die Geranien sonst vertrocknen“.
Lukas führte lange Gespräche mit Ärzten, mit seiner Tante, mit mir.
Das Wort „Pflegeheim“ hing irgendwann im Raum wie ein Geruch, den keiner zugeben wollte.
„Vielleicht ist es besser, wenn sie nicht mehr allein wohnt“, sagte er eines Abends, während er das Notizbuch nervös durchblätterte, als könnte er dort eine andere Lösung finden. „Sie hat schon zweimal den Herd angelassen.“
Ich sah ihn an, sah den Mann, der in dieser Küche groß geworden war, in der jeder Topf seinen Platz hatte und jeder Feiertag nach Zimt und Brühe roch.
„Wenn sie geht, geht diese Küche mit“, flüsterte ich.
Am Tag des Umzugs war die Wohnung voller Kartons und halbleerer Regale.
Inge saß auf einem Stuhl in der Mitte der Küche, ihre Hand lag wie selbstverständlich auf dem Notizbuch, das auf ihrem Schoß ruhte.
„Nimmst du das mit?“ fragte ich leise.
Sie sah auf das Buch, dann zu mir. Für einen Moment war da wieder dieser klare, wache Blick.
„Ich glaube, das Buch gehört jetzt dir“, sagte sie. „Im Heim kocht jemand anders. Aber du kennst unsere Menschen.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Aber es ist doch dein Gedächtnis.“
Sie lächelte müde.
„Ach, mein Kopf macht, was er will“, murmelte sie. „Aber du… du hast dir alles gemerkt, was zwischen den Zeilen steht.“
Ich nahm das Notizbuch vorsichtig in die Hände. Es fühlte sich schwerer an als sonst.
Wie eine Aufgabe.
Wie ein Versprechen.
Im Heim war alles anders.
Die Flure rochen nach Desinfektionsmittel und Kaffee, die Zimmer waren ordentlich, fast zu ordentlich.
Als wir Inge das erste Mal dort besuchten, stand ein Teller mit Keksen auf dem Tisch.
„Mit Nüssen“, sagte sie fröhlich und schob ihn mir hin, obwohl sie wusste, dass eine der Enkelinnen dagegen allergisch war.
„Mama, erinnerst du dich? Lisa darf keine Nüsse“, erklärte Lukas sanft.
Inge runzelte die Stirn.
„Ach ja… das war jemand… da war doch was.“
Ich holte das Notizbuch aus meiner Tasche.
„Schau mal“, sagte ich, „hier steht es.“
Ich blätterte zu Lisas Seite, zeigte ihr den Eintrag.
Inge fuhr mit dem Finger über die Zeilen, als würde sie Brailleschrift lesen.
„Lisa – keine Nüsse, kein Kiwi, liebt Erdbeeren“, murmelte sie.
Dann sah sie ihre Enkelin an und lachte.
„Na dann bekommst du eben die mit Schokolade.“
Lisa strahlte, als hätte ihre Oma gerade ein kleines Wunder vollbracht.
Vielleicht war es eins.
Von da an nahm ich das Notizbuch bei jedem Besuch mit.
Nicht, weil Inge sich plötzlich wieder alles merken konnte.
Sondern weil es eine Brücke war, ein Stück vertraute Welt in einem Zimmer, in dem die Uhr immer ein bisschen langsamer zu ticken schien.
Eines Nachmittags, als draußen der Regen gegen die Fenster prasselte, blätterte Inge sehr lange im Buch.
Sie blieb bei meinem Eintrag stehen.
„Marie – vermisst ihre Eltern an Feiertagen…“, las sie langsam.
Sie brach ab, runzelte die Stirn.
„Wer hat das geschrieben?“ fragte sie.
„Du“, antwortete ich.
Sie sah mich lange an.
„Das klingt, als hätte da jemand wirklich zugehört“, sagte sie leise. „So möchte ich mir mich gern merken.“
Ich schluckte.
„So möchten wir dich uns alle merken“, flüsterte ich.
Mit der Zeit wurde das Notizbuch zu etwas anderem.
Nicht nur zur Liste, wer was nicht verträgt, sondern zu einer Art Familienchronik.
Wir fügten kleine Kommentare hinzu:
„Oma Inge – singt ‚Stille Nacht‘ immer zu früh und zu laut, darf das aber.“
„Lukas – tut so, als wäre ihm Weihnachten egal, sitzt aber jedes Jahr als Erster am Tisch.“
„Lisa – braucht an schweren Tagen jemanden, der ihre Hand hält, ohne Fragen zu stellen.“
Eines Abends saß unsere Tochter – inzwischen vierzehn – am Küchentisch und blätterte darin.
Ihr Handy lag daneben, der Bildschirm schwarz.
„Das ist irgendwie… altmodisch“, sagte sie. „Aber auch schön.“
„Wie meinst du das?“ fragte ich.
Sie zuckte mit den Schultern.
„Heutzutage macht man Listen auf dem Handy. Allergien in irgendeiner App, Erinnerungen im Kalender. Aber hier…“
Sie tippte auf die Seite ihrer Oma.
„Hier steht nicht nur, was jemand nicht essen kann. Hier steht, was ihn traurig macht. Oder was ihn froh macht.“
Sie war eine Weile still, dann holte sie ein Notizheft aus ihrem Rucksack.
„In meiner Klasse gibt es auch welche, die immer sagen, sie seien ‚kompliziert‘. Einer hat Social Anxiety, eine andere isst nur bestimmte Sachen, weil alles andere sie stresst. Vielleicht sollten wir… keine Ahnung… auch so ein Buch machen.“
Ich sah sie an und spürte einen Stich Rührung.
„Für deine Freunde?“
Sie nickte.
„Nicht, um sie zu katalogisieren. Sondern damit sie wissen, dass jemand sie ernst nimmt.“
In diesem Moment begriff ich, dass Inges Idee weiterging, auch wenn sie selbst sich nicht mehr an alles erinnerte.
Dass ihr Prinzip größer war als diese Küche, größer als unsere Familie.
Ein Jahr später entschieden wir, Weihnachten nicht mehr in Inges Wohnung zu feiern, sie stand inzwischen leer, sondern im Gemeinschaftsraum des Heims.
Die Leitung war erst unsicher, dann doch einverstanden.
„Solange Sie selbst kochen und auf die Besonderheiten achten“, meinte eine Pflegerin.
Ich lächelte und hielt das Notizbuch hoch.
„Genau dafür haben wir eine Anleitung.“
Wir stellten einen langen Tisch auf, brachten unsere Töpfe und Schüsseln von zu Hause mit.
Zwischen den Adventsgestecken steckten diesmal nicht nur Zettel für unsere Familie, sondern auch für die anderen Bewohner:
„Herr M. – liebt Karottensuppe, hasst Speckstücke.“
„Frau S. – braucht alles weich, aber bitte gut gewürzt.“
„Herr Mertens – kein Alkohol, aber Kinderpunsch geht.“
Die Pflegerinnen schauten erstaunt auf die vielen kleinen Zettel.
„So genau haben wir das gar nicht aufgeschrieben“, murmelte eine.
„Dann fangen wir dieses Jahr damit an“, sagte ich.
Als wir gemeinsam am Tisch saßen, Inge im Rollstuhl am Kopfende, sah ich für einen kurzen Augenblick die alte Küche vor mir.
Die karierten Geschirrtücher, der Teekessel, das Rascheln des Notizbuchs.
Inge sah verwirrt in die Runde, dann auf den Teller vor sich.
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