Das Paket ohne Absender, das zwei Frauen und ein Kind verband

Ich hätte das Paket fast ungeöffnet in den Müll geworfen.

Es stand vor meiner Haustür, in wiederverwendetes braunes Papier gewickelt und mit so viel Gewebeband zugeklebt, dass es eher nach Bastelprojekt aussah als nach Post. Kein Absender. Nur ein Name, mit Filzstift draufgekritzelt, den ich nicht kannte. In Zeiten, in denen ständig irgendwer irgendwo betrogen wird, war ich sofort misstrauisch.

Aber dann hob ich es an.

Es war leicht, und innen klapperte etwas ganz leise, als würde Glas an Karton stoßen. Neugier schlägt Misstrauen – manchmal nur knapp. Ich nahm es mit in die Küche, holte die Schere und schnitt vorsichtig durch das Band.

Ich fand keinen Schrott.

Ich fand einen kleinen Stapel zerknitterter Kinderzeichnungen, ein Glas selbstgemachte Erdbeermarmelade und einen Brief, der mich in Stücke riss.

Um das zu verstehen, muss ich genau ein Jahr zurück.

Ich machte das, was viele von uns machen, wenn die Jahreszeiten wechseln: ausmisten. Im Flur stapelten sich Kinderklamotten – ein Wintermantel, der zu klein geworden war, Leggings mit ausgeblichenen Knien, Pullover, die nur einmal richtig getragen wurden. Ich fotografierte alles und stellte es in eine lokale „Zu verschenken“-Gruppe auf Facebook.

„Zu verschenken. Größe 98/104. Abholung nach Absprache.“

Es kamen die üblichen Nachrichten. Kurze Sätze. Ungeduld. „Noch da?“ „Kann ich morgen?“ „Bitte reservieren.“

Und dann schrieb eine Frau, die sich anders las als die anderen.

Sie hieß Maria. Ihre Nachricht war höflich, fast vorsichtig. Sie schrieb, dass es ihr gerade richtig schlecht gehe. Ihr Mann habe seinen Job verloren, sie selbst sei auch ohne Arbeit, und sie würden jeden Cent umdrehen.

Und weil die Heizkosten so hoch geworden seien, würden sie die Heizung nur kurz anmachen, damit es irgendwie geht. Sie schrieb nicht dramatisch. Eher so, als würde sie sich entschuldigen, überhaupt zu fragen.

Ob ich es ihr schicken könnte.

Nicht weit – aber weit genug, dass Abholen nicht möglich war. Ihr Auto sei kaputt, sie käme gerade nirgends hin.

Meine erste Reaktion? Ehrlich: genervt.

Ich dachte: „Ich verschenke doch schon. Und jetzt soll ich noch verpacken, zur Post, bezahlen, mich anstellen?“ Ich hatte selbst genug im Kopf. Termine, Arbeit, Kind, Haushalt. Und natürlich diese Stimme im Hinterkopf: „Wer weiß, ob das stimmt.“

Ich tippte: „Tut mir leid, nur Abholung.“

Mein Daumen blieb über dem Senden stehen.

Ich schaute auf den Haufen Klamotten. Ich schaute aus dem Fenster. Es war einer von diesen grauen Tagen, an denen man schon beim Lüften merkt, wie kalt es werden kann. Und ich dachte plötzlich nicht an mich, sondern an ein Kind, das abends in einem Zimmer sitzt, in dem man die Heizung auslässt, weil man Angst vor der nächsten Rechnung hat.

Ich löschte die Nachricht.

Ich holte einen alten Karton aus dem Abstellraum. Ich stopfte ihn voll. Nicht nur mit den Sachen aus dem Foto, sondern auch mit dicken Socken, einem warmen Schal, einem Pullover, den ich eigentlich „noch für irgendwas“ aufheben wollte. Ich schrieb ihre Adresse sauber ab, klebte alles zu und brachte es am nächsten Tag zur Postfiliale.

Ich stand in der Schlange.

Zwanzig Minuten, vielleicht länger. Menschen mit Paketen, Menschen mit Briefen, Menschen mit diesem müden Blick, wenn jeder seine eigenen Sorgen mit sich herumträgt. Am Schalter bezahlte ich das Porto. Es tat im Geldbeutel weh. Nicht, weil es unvernünftig war, sondern weil ich kurz dachte: „Das ist doch jetzt unnötig.“

Auf dem Heimweg ärgerte ich mich über den Verkehr.

Und am Abend… hatte ich es schon fast vergessen.

Ein Jahr später stand ich wieder in meiner Küche – nur diesmal mit diesem Paket ohne Absender.

Ich drehte das Marmeladenglas in der Hand. Ein handgeschriebenes Etikett. Keine perfekte Schrift, eher so, wie man schreibt, wenn man sich Mühe gibt, aber nicht geschniegelt wirken will.

Dann nahm ich den Brief.

Die Schrift war ein bisschen zittrig, auf kariertem Papier. Und der Ton war so ehrlich, dass ich beim ersten Satz schon schlucken musste.

„Liebe Frau …

ich weiß nicht, ob Sie sich an uns erinnern. Sie haben uns letztes Jahr ein Paket mit Kleidung für meine Tochter geschickt. Es war eine Zeit, die ich niemandem wünsche. Wir waren beide ohne Arbeit. Wir haben die Heizung nur kurz angemacht, weil wir Angst hatten, dass wir es nicht mehr bezahlen können. Es war kalt, nicht nur in der Wohnung – auch im Kopf.“

Ich las langsamer.

„Als Ihr Paket kam, war es, als hätte jemand für einen Moment das Licht angemacht. Meine Tochter hat den Mantel sofort angezogen. Ein pinker Mantel, viel zu groß für sie, aber sie wollte ihn nicht mehr ausziehen. Sie hat im Wohnzimmer damit getanzt, als wäre es ein Fest.

Und abends hat sie den Mantel mit ins Bett genommen. Nicht, weil es schön aussah, sondern weil es warm gemacht hat. Ich habe sie lange nicht mehr so lächeln sehen.“

Ich musste den Brief kurz absetzen.

Ich merkte erst da, wie sehr ich mich damals an dieser Portogeschichte aufgehängt hatte. Wie klein mein Ärger eigentlich war und wie groß das bei ihr angekommen ist.

Ich las weiter.

„Inzwischen geht es uns besser. Mein Mann hat wieder Arbeit, und ich bin auch wieder dabei, Schritt für Schritt. Wir sind noch nicht ‚fertig‘, aber wir kommen wieder hoch.

Wir wollten Ihnen etwas zurückgeben. Nicht, weil man so etwas ‚bezahlen‘ kann – sondern, weil wir nicht wollten, dass Sie denken, es sei egal gewesen.“

„Wir haben im Sommer Erdbeeren gesammelt, und ich habe Marmelade gekocht. Meine Tochter hat die Bilder gemalt. Sie hat gesagt: ‚Das ist für die nette Frau, die mich warm gemacht hat.‘“

Ich legte den Brief auf den Tisch.

Die Tränen kamen plötzlich. Heiß, schnell, ohne Vorwarnung. Ich stand einfach da und schaute auf die Zeichnungen.

Ein Strichmännchen-Mädchen in einem riesigen Mantel. Eine gelbe Sonne. Ein Haus mit einem Schornstein, aus dem Rauch kommt, als wäre Wärme das schönste Detail der Welt.

Ich dachte wieder an die Postfiliale. An die Schlange. An dieses „Ach, das kostet aber…“. An meinen genervten Blick auf die Uhr.

Und dann kam etwas anderes: Scham. Nicht weil ich geholfen hatte. Sondern weil ich fast nicht geholfen hätte.

Ich suchte ihren Namen in Facebook, fand die Nachricht von damals und schrieb ihr.

„Das Paket ist angekommen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

Sie antwortete fast sofort.

„Ich freue mich so! Meine Tochter hat jeden Tag gefragt, ob die nette Frau ihre Marmelade bekommen hat.“

So fing etwas an, womit ich nie gerechnet hätte.

Wir schrieben uns. Erst nur kleine Updates. Dann echte Dinge. Sie erzählte mir, wie es ist, wenn man nachts wach liegt und rechnet, ob man die nächste Woche irgendwie überbrückt. Wie man die Heizung anmacht, kurz wieder aus, und sich dafür hasst und es trotzdem tut. Wie man sich schämt, Hilfe anzunehmen, obwohl man sie braucht.

Und ich erzählte ihr von meinem Leben, das von außen „geordnet“ wirkt, sich innen aber oft wie ein Dauerlauf anfühlt. Von Druck, Terminen, dieser ständigen Müdigkeit, die nicht vom Schlaf kommt.

Wir waren zwei Frauen, die sich nie begegnet wären.

Verbunden durch einen Karton mit Kinderkleidung und ein bisschen Mut, nicht auf das bequeme „Nein“ zu drücken.

Im Frühjahr war ich zufällig in ihrer Nähe, wegen eines Termins. Ich schrieb ihr, ob sie Lust auf einen Kaffee hätte. Ganz unverbindlich. Kein großes Treffen, kein Plan, nur: „Wenn es passt.“

Wir verabredeten uns in einem kleinen Café. Ich saß am Tisch und spürte mein Herz klopfen, als wäre ich diejenige, die um etwas bittet.

Was, wenn es komisch wird?

Was, wenn wir uns anschauen und merken, dass das alles nur in der Schrift funktioniert?

Dann ging die Tür auf.

Eine Frau kam rein, in einer schlichten, ordentlich getragenen Jacke. Neben ihr ein kleines Mädchen mit großen braunen Augen. Es hielt ihre Hand fest, als wäre sie ein Anker.

Maria sah mich an und sagte meinen Namen, als hätte sie ihn schon tausendmal im Kopf geübt.

Wir haben uns nicht die Hand gegeben.

Wir haben uns umarmt. Einfach so, mitten im Raum, während jemand hinter der Theke kurz stehen blieb und tat, als hätte er nichts gesehen.

Das Mädchen trat einen Schritt vor und hielt mir etwas hin: ein kleiner Stoffbär, schon ein bisschen abgewetzt, aber sauber.

„Für dich“, sagte sie leise.

Wir saßen lange. Wir tranken Kaffee, der nicht besonders gut war, und aßen Kuchen, der viel zu süß war. Wir lachten. Wir erzählten. Wir zeigten uns Fotos – nicht die perfekten, sondern die echten.

Und irgendwann, als ich die beiden ansah, gesund, lebendig, warm angezogen – da traf mich ein Gedanke, der so simpel ist, dass man ihn trotzdem vergisst:

Ich hätte damals mit einem Klick „Nein“ sagen können.

Ich hätte ein paar Euro gespart, zwanzig Minuten Zeit gewonnen und mich dabei wahrscheinlich noch für „vernünftig“ gehalten.

Aber ich hätte diese Zeichnungen nie gesehen.

Diese Marmelade nie probiert.

Dieses Kind nie kennengelernt, das den Mantel ins Bett genommen hat, weil Wärme für sie etwas war, das man festhalten muss.

Ich fuhr an dem Tag nach Hause und fühlte mich leichter, als hätte jemand in mir etwas aufgeräumt.

Die Welt ist oft laut. Im Internet wird geschrien. Im Alltag wird gezählt. Viele sind müde, viele sind angespannt, viele haben das Gefühl, allein zu sein mit dem, was sie tragen.

Aber auf meiner Küchenplatte steht dieses Glas Erdbeermarmelade.

Und jedes Mal, wenn ich es sehe, denke ich:

Manchmal ist das Wichtigste, was du tun kannst, nicht groß, nicht spektakulär, nicht perfekt.

Manchmal ist es einfach nur: einen Karton packen. Zur Post gehen. Warten. Und trotzdem freundlich bleiben.

Sei das kleine Stück „Wir“, das du dir selbst manchmal wünschst. 

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