🐾 Teil 4: Stimmen der Vergangenheit
Adele kehrte mit langsamen Schritten den Pfad entlang zurück. Das Foto drückte sie fest an die Brust, als könnte es sonst im Wind verwehen. Der Himmel hatte sich inzwischen klarer geöffnet, und die Sonne legte ein flaches Licht über den Wald. Jeder Schritt knarrte im nassen Laub, doch in ihr selbst war es still.
Zuhause stellte sie die Dose, den Schlüssel und das neue Tagebuch auf den Küchentisch. Sie setzte Wasser auf, wie sie es immer getan hatte, wenn sie Ordnung in ihr Herz bringen wollte. Der Duft von schwarzem Tee breitete sich aus und vermischte sich mit dem erdigen Geruch, der noch an ihren Händen haftete.
Sie schlug das braune Tagebuch erneut auf. Die Seiten waren voller Sätze, die sie nicht überfliegen konnte. Jeder einzelne verlangte, dass sie ihn langsam las, als würde er erst dann seine ganze Schwere entfalten.
„Es gibt Tage,“ stand in einer Eintragung vom Oktober, „da sehe ich dich an und weiß, dass du dieselben Wunden trägst wie ich. Aber ich weiß auch, dass wir uns in der Trauer verloren haben. Ich kann nur mit Ilvo sprechen. Er hört, ohne zu fragen.“
Adele spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Sie dachte an die langen Abende, in denen sie und Hennig nebeneinander im Wohnzimmer gesessen hatten, das Radio leise im Hintergrund, die Worte zwischen ihnen schwer wie Steine. Es war nicht Hass gewesen, nicht Gleichgültigkeit. Es war das Schweigen zweier Menschen, die denselben Schmerz kannten, ihn aber nicht teilen konnten.
Sie blätterte weiter. Eine Stelle aus dem Winter 2021 ließ sie innehalten.
„Ich habe die Hütte aufgesucht, als der Schnee hoch stand. Ich habe Elisa dort gesucht, aber gefunden habe ich nur mein eigenes Schweigen. Vielleicht liegt die Antwort nicht draußen, sondern in dem, was wir uns nie gesagt haben.“
Adele schloss die Augen. Sie sah das Gesicht ihrer Tochter, so klar, als stünde sie vor ihr. Elisa mit den dunklen Haaren, die immer viel zu schnell lachten, mit der Ungeduld in den Händen und dem Mut in den Augen. Es tat weh, an sie zu denken, und doch war da etwas Tröstliches, als sei sie für einen Atemzug wieder da.
Auf dem Küchentisch lag neben dem Buch der Lederanhänger mit dem eingeritzten E. Sie nahm ihn in die Hand, drehte ihn zwischen den Fingern. War es für Elisa? Oder für etwas anderes? Der Gedanke ließ sie nicht los.
Später am Abend ging sie hinaus in den Hof. Die Dämmerung legte sich über die Dächer von Bad Frankenhausen, und in der Ferne leuchtete schwach die Oberkirche, deren Turm seit Jahrhunderten schief stand.
Adele sah in den Himmel, und das Blau war tief und klar, durchzogen von einem frühen Stern. Sie erinnerte sich an Nächte, in denen Hennig mit Ilvo noch draußen war, viel länger als nötig. Sie hatte es nie hinterfragt. Nun fragte sie sich, was er in diesen Stunden gedacht hatte.
Am nächsten Morgen nahm sie das Foto, das Buch und den Brief mit in das Schlafzimmer. Sie setzte sich an den Rand des Bettes, das ihr seit Monaten zu groß erschien. Ihr Blick fiel auf Hennigs Nachttisch. Dort stand noch immer seine alte Uhr, die er jeden Abend aufgezogen hatte. Neben der Uhr lag ein kleines Notizheft, das sie nie beachtet hatte.
Sie schlug es auf. Meistens standen nur Zahlen darin, Rechnungen, kurze Erinnerungen. Doch auf der letzten Seite hatte er einen Satz notiert: „Manchmal bewahrt uns nur das Schweigen vor dem Zerbrechen.“
Adele hielt das Heft lange in den Händen. Sie verstand plötzlich, dass Hennig nicht aus Kälte geschwiegen hatte, sondern aus Angst, dass Worte den Schmerz noch größer machen würden. Es war kein Geheimnis gegen sie gewesen, sondern ein Schutz, so fehlgeleitet er auch war.
Am Nachmittag ging sie in den Garten. Der Wind trug den Geruch von nasser Erde, und ein paar letzte Blätter hingen noch an den Obstbäumen. Sie setzte sich auf die Bank, auf der Hennig oft mit Ilvo gesessen hatte. Sie stellte sich vor, wie die beiden zusammen hinaus in den Wald gingen, Schritt für Schritt, schweigend und doch verbunden.
In der Stille hörte sie fast das Kratzen von Pfoten über den Kiesweg. Ein Echo, das nicht wirklich da war, aber in ihr lebendig blieb. Sie lächelte traurig.
Dann griff sie wieder nach dem Tagebuch. Eine der letzten Eintragungen war datiert auf wenige Wochen vor Hennigs Krankheit.
„Ich spüre, dass meine Zeit kürzer wird. Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll. Darum schreibe ich es hier, und Ilvo ist mein Zeuge. Ich habe Angst, dass du eines Tages nur das Schweigen erinnerst. Aber vielleicht findest du dieses Buch und siehst dann, dass auch mein Schweigen voller Worte war.“
Adele legte das Buch auf ihren Schoß und blickte in die Ferne. Sie spürte eine seltsame Wärme in der Brust, als würde Hennig noch einmal neben ihr sitzen.
Der Schlüssel, die Dose, die Truhe in der Hütte – es war, als hätte er ihr eine Spur gelegt, Schritt für Schritt. Nicht um sie zu quälen, sondern um ihr den Mut zu geben, nach seinem Tod noch einmal mit ihm zu sprechen.
Sie wusste, dass sie die Hütte erneut aufsuchen musste. Irgendetwas dort wartete noch. Vielleicht eine weitere Spur, vielleicht nur die Ruhe des Ortes. Doch sie spürte, dass die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt war.
Und in der leisen Kühle des Abends wusste Adele, dass der Weg in die Vergangenheit erst begonnen hatte.