Das Tagebuch im Körbchen | Eine Witwe entdeckt im alten Hundekörbchen ein verborgenes Tagebuch und ihr Leben verändert sich für immer

🐾 Teil 5: Das Echo der Schritte

Am nächsten Morgen wachte Adele früh auf. Die Nacht hatte ihr kaum Schlaf geschenkt, nur ein flackerndes Hin und Her aus Träumen, in denen Ilvo bellte und Hennig schweigend neben ihr ging. Als die ersten Sonnenstrahlen über den Hof fielen, stand sie auf, zog den Mantel an und nahm das Tagebuch fest unter den Arm.

Der Weg zur Hütte ließ ihr keine Ruhe. Sie hatte das Gefühl, dass die Seiten des Buches sie nicht nur erinnern lassen wollten, sondern dass sie sie irgendwohin führten. Dorthin, wo vielleicht eine Antwort auf sie wartete, die über all die Jahre verborgen geblieben war.

Der Wind war frisch, als sie das Dorf hinter sich ließ. Bad Frankenhausen schlief noch, nur wenige Fenster waren erleuchtet. Über den Feldern hing Nebel, und die Bäume am Rand des Waldes wirkten wie Wächter, die sie prüfend ansahen. Jeder Schritt auf dem nassen Boden klang lauter, als er sollte, und ihr Herz schlug schneller, als sie den Hang hinaufging.

Bald erreichte sie die Stelle mit dem moosigen Stein, wo sie die Dose gefunden hatte. Sie blieb einen Moment stehen, legte die Hand auf den rauen Fels und spürte, wie die Kälte in ihre Finger zog. Es war, als würde dieser Ort ihre Entscheidung noch einmal prüfen. Dann setzte sie den Weg fort, tiefer in den Wald hinein, bis sie erneut das Murmeln des Stillebachs hörte.

Die Hütte stand da wie am Tag zuvor, still, halb verborgen, vom Moos umwachsen. Doch heute schien sie weniger bedrohlich, fast vertraut. Adele schob die Tür auf, das Scharnier ächzte, und sie trat ein.

Das Licht fiel matt durch dieselben Ritzen, und Staub tanzte in der Luft. Die Truhe stand verschlossen an ihrem Platz. Auf dem Tisch lag das braune Tagebuch, so, als hätte sie es nie fortgetragen. Irritiert legte sie das Exemplar, das sie aus dem Haus mitgebracht hatte, daneben. Zwei Bücher, identisch, fast wie Spiegelbilder. Doch bei genauerem Hinsehen bemerkte sie Unterschiede.

Das eine war voller Eintragungen, vertraut und geordnet. Das andere hatte leere Seiten zwischen den beschriebenen, Lücken, als ob Hennig bewusst etwas ausgelassen hatte. Adele blätterte langsam, und auf einmal entdeckte sie kleine Zahlen am unteren Rand mancher Seiten. Nicht groß, eher eingeritzt als geschrieben, kaum sichtbar.

Sie setzte sich, hielt die Bücher nebeneinander und verglich die Stellen. Wo in dem einen Buch Worte standen, klaffte im anderen eine Leere. Wo er in dem ersten von Elisa sprach, fehlte im zweiten jeder Hinweis. Es war, als hätte er zwei Versionen derselben Geschichte geschrieben – eine offene und eine zurückgehaltene.

Adeles Atem stockte. Hatte Hennig gewollt, dass sie beide Bücher fand? Oder hatte er gehofft, dass eines von ihnen verborgen bleiben würde? Sie erinnerte sich an seinen Satz im Brief: „Vielleicht können wir uns in den Erinnerungen noch einmal begegnen.“ War dies seine Art, sie in das hinein zu ziehen, was er selbst nicht auflösen konnte?

Sie nahm das zweite Buch und blätterte zu einer Seite, auf der nur ein einziger Satz stand: „Wenn du den Mut hast, lies zwischen den Zeilen.“ Darunter war die Zahl 323 eingeritzt, dieselbe wie auf dem Schlüssel.

Adele schlug die Seite im ersten Buch auf, die denselben Tag beschrieb. Dort stand ein längerer Eintrag, von einem Spaziergang mit Ilvo an einem kalten Wintermorgen. „Wir gingen am Stillebach entlang, und er blieb an einer Stelle stehen. Ich habe in den Boden gegraben und etwas zurückgelassen, das zu schwer für mich war.“

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie blickte hinaus zur Tür, zum Bach, der draußen rauschte. Irgendetwas lag dort, verborgen im Erdreich, vielleicht seit Jahren. Der Schlüssel in ihrer Tasche schien schwerer zu werden, als verlange er von ihr, weiterzugehen.

Adele nahm die kleine Blechdose, den Lederanhänger und beide Bücher. Dann trat sie hinaus in den Wald. Das Rauschen des Baches führte sie wie ein Lied, das sie längst vergessen hatte. Die Luft roch nach nassem Holz und altem Laub.

Sie ging das Ufer entlang, tastete mit den Augen den Boden ab. Nach einigen Schritten sah sie eine Stelle, an der der Boden etwas aufgewühlt wirkte, obwohl kein Tier zu sehen war. Dort blieb sie stehen.

Mit den Händen schob sie das feuchte Laub beiseite. Die Erde darunter war dunkel, schwer, und sie musste tiefer graben, bis ihre Finger auf etwas Hartes stießen. Es war ein kleines Kästchen aus Holz, fest verschlossen, mit einem winzigen Schloss, das genau zu dem Schlüssel passte.

Adele setzte sich auf einen umgestürzten Stamm. Sie hielt das Kästchen auf den Knien, der Schlüssel in ihrer Hand zitterte. Einen Moment lang wagte sie nicht, ihn zu benutzen. Sie dachte an Hennig, an sein Schweigen, an die Nächte, in denen er hier draußen gewesen war. Vielleicht hatte er gehofft, dass sie diesen Weg nie gehen würde. Vielleicht aber auch, dass sie ihn eines Tages fand.

Sie steckte den Schlüssel in das Schloss. Es klickte, leise, fast wie ein Seufzen. Langsam hob sie den Deckel.

Drinnen lag ein Bündel Briefe, sorgfältig mit einer Kordel gebunden. Das Papier war vergilbt, die Umschläge alt. Auf dem obersten stand nicht ihr Name, sondern ein anderer: Elisa.

Adeles Herz blieb stehen. Ihre Finger griffen nach dem Bündel, doch sie wagte es nicht, die Kordel sofort zu lösen. Stattdessen saß sie da, die Briefe im Schoß, das Rauschen des Baches im Ohr, und spürte, wie die Vergangenheit schwer auf ihren Schultern ruhte.

Und während der Bach unaufhörlich floss, wusste Adele, dass diese Briefe eine Wahrheit bargen, die tiefer schnitt als jedes Schweigen.

Scroll to Top