🐾 Teil 6: Die Briefe im Kästchen
Adele saß lange am Ufer des Stillebachs, das Bündel in ihren Händen schwer wie eine Last, die nicht für sie bestimmt war. Die Kordel schnitt leicht in ihre Finger, während sie das Rauschen des Wassers hörte. Es klang, als würde der Bach eine Geschichte erzählen, die älter war als ihre eigene. Schließlich atmete sie tief ein und löste die Schnur.
Der oberste Umschlag war an Elisa adressiert, die Tinte etwas verblasst, doch klar erkennbar. Adele öffnete ihn vorsichtig, als könnte er in ihren Händen zerfallen. Das Papier knisterte leise, und sie begann zu lesen.
„Meine liebe Elisa,“ stand da. „Wenn du eines Tages alt genug bist, diese Worte zu verstehen, wirst du vielleicht begreifen, warum dein Vater schweigt. Es gibt Dinge, die zu schwer sind, um sie in Worte zu fassen. Doch ich will nicht, dass du nur mein Schweigen erinnerst. Deshalb schreibe ich dir.“
Adele spürte, wie ihre Kehle eng wurde. Tränen liefen unbemerkt über ihr Gesicht. Sie las weiter.
Hennig schrieb von seinen Ängsten, von der Schuld, die er empfand, weil er Elisa nicht hatte schützen können. Er beschrieb Spaziergänge mit Ilvo, in denen er ihrer Tochter nahe sein wollte, auch wenn sie längst fort war. „Ilvo trägt deine Spuren,“ stand da, „in seinen Augen sehe ich dich manchmal lachen, so wie damals, an jenem Sommertag.“
Adele drückte das Blatt an ihre Brust. Sie hatte Elisa immer in sich getragen, aber Hennigs Worte machten klar, wie sehr auch er an ihr zerbrochen war. All die Jahre hatte sie geglaubt, er verschließe sich aus Kälte. Nun erkannte sie, dass es Schmerz gewesen war, den er allein getragen hatte.
Sie legte den ersten Brief zur Seite und öffnete den nächsten. Wieder an Elisa, wieder voller Geständnisse. „Manchmal gehe ich an die alte Birke, und ich rede mit dir, als wärst du noch da. Der Hund setzt sich dann neben mich, und ich weiß, er hört dich auch. Vielleicht ist das Einbildung. Vielleicht aber auch nicht.“
Adele erinnerte sich an Nächte, in denen Hennig spät zurückkam, die Schuhe voller Erde. Sie hatte nie gefragt, weil sie Angst vor der Antwort gehabt hatte. Nun wusste sie, wo er gewesen war, mit wem er gesprochen hatte.
Es waren mehrere Briefe, einer nach dem anderen, jeder datiert über die Jahre hinweg. Sie erzählten von Hennigs stillem Dialog mit ihrer verlorenen Tochter, von seiner Hoffnung, dass Adele eines Tages verstehen würde.
Beim letzten Brief zögerte sie. Er war kürzer, hastiger geschrieben. „Elisa, ich spüre, dass meine Zeit knapp wird. Wenn deine Mutter eines Tages dies liest, dann soll sie wissen, dass ich sie nie verlassen habe. Mein Schweigen war keine Mauer, sondern ein Schild. Ich wollte sie schützen. Verzeih mir.“
Adele legte den Brief auf den Stapel und schloss die Augen. Das Rauschen des Baches mischte sich mit ihrem eigenen Herzschlag. Sie fühlte sich, als säße Hennig direkt neben ihr, als würde er endlich die Worte sprechen, die sie so lange vermisst hatte.
Die Briefe lagen nun offen auf ihrem Schoß. Sie strich mit der Hand über das vergilbte Papier, als wolle sie es wärmen. In diesem Moment begriff sie, dass sie nicht nur Erinnerungen in den Händen hielt. Es war ein Vermächtnis. Ein Zeugnis der Liebe, die nie laut, aber immer da gewesen war.
Langsam legte sie die Briefe zurück in das Kästchen. Sie wusste, dass sie sie wieder und wieder lesen würde. Doch jetzt war nicht die Zeit, alles bis ins Letzte zu begreifen. Sie musste nach Hause, musste die Worte in Ruhe in sich wirken lassen.
Der Rückweg war schwerer. Jeder Schritt fühlte sich an, als trüge sie die Vergangenheit auf den Schultern. Doch gleichzeitig war da eine seltsame Leichtigkeit, als hätte sich ein Knoten gelöst. Sie war nicht mehr allein mit ihrer Trauer. Hennig hatte sie die ganze Zeit geteilt, nur auf seine Weise.
Zuhause angekommen stellte sie das Kästchen auf den Tisch. Sie setzte sich, trank einen Schluck kalten Tee und starrte lange auf den Holzdeckel. Schließlich griff sie nach dem Telefonbuch, das noch neben der Küchentür hing. Eine alte Gewohnheit, die sie nie aufgegeben hatte.
Sie schlug es auf, ohne genau zu wissen, wonach sie suchte. Vielleicht nach einer Spur zu jemandem, der Elisa gekannt hatte, vielleicht nach einer Verbindung, die ihr helfen konnte, die Worte einzuordnen. Doch ihre Augen blieben an etwas anderem hängen: dem Eintrag der Bibliothek im Ort.
Adele erinnerte sich, dass Elisa dort oft nach Märchenbüchern gesucht hatte. Und sie erinnerte sich, dass Hennig einmal von einem Buch gesprochen hatte, das er für sie dort versteckt hatte. Plötzlich war da ein neuer Gedanke, leise, aber klar. Vielleicht lag in der Bibliothek ein weiteres Stück der Wahrheit.
Sie legte die Hand auf das Kästchen und atmete tief durch. Dann stand sie auf, nahm ihren Mantel und die Schlüssel und machte sich auf den Weg.
Und während sie die Haustür hinter sich schloss, ahnte Adele, dass die Suche nach der ganzen Wahrheit sie nun an Orte führen würde, die sie längst vergessen glaubte.