🐾 Teil 7: Das verborgene Buch
Die Bibliothek von Bad Frankenhausen lag still am Rand des Marktplatzes. Ein Gebäude aus den sechziger Jahren, nüchtern und ohne Schmuck, doch für Adele war es ein Ort voller Erinnerungen.
Sie hatte Elisa hier oft abgeholt, wenn sie als Mädchen stundenlang zwischen den Regalen gesessen und gelesen hatte. Der Geruch nach altem Papier und Staub hing schon im Eingangsbereich, und sofort stieg Adele eine Welle von Sehnsucht in die Kehle.
Sie ging durch die Glastüren und nickte der Bibliothekarin zu, einer älteren Frau mit strengem Dutt, die sie flüchtig kannte. Niemand fragte nach ihrem Grund, niemand ahnte, dass sie hier nicht nur Bücher suchte, sondern Antworten. Adele trat tiefer in die Räume, vorbei an Regalen, die sich wie schmale Gassen vor ihr auftürmten.
Ihr Blick fiel auf das Kinderbuchregal, das seit Jahrzehnten an derselben Stelle stand. In der unteren Reihe hatten Elisas Lieblingsmärchen gestanden. Adele kniete sich hin und zog wahllos ein Buch heraus. „Die goldene Gans“. Sie schlug es auf, doch zwischen den Seiten fand sich nichts. Nur das vergilbte Papier, das sie schon kannte.
Sie stellte es zurück, suchte weiter. „Brüderchen und Schwesterchen“, „Frau Holle“, „Die Bremer Stadtmusikanten“. Alles Bücher, die Elisa geliebt hatte. Doch keines barg ein Geheimnis. Adele spürte, wie Ungeduld in ihr wuchs. Vielleicht hatte sie sich getäuscht, vielleicht war die Spur zu vage.
Da fiel ihr Blick auf ein dünnes Buch, dessen Rücken schon halb verblichen war. „Das Märchen vom treuen Hund“. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Elisa je davon gesprochen hatte. Behutsam nahm sie es heraus. Der Einband war abgenutzt, die Ecken eingerissen. Mit klopfendem Herzen schlug sie es auf.
Zwischen der dritten und vierten Seite steckte ein gefaltetes Stück Papier. Es war gelblich geworden, an den Rändern wellig, doch die Schrift darauf war klar. Hennigs Handschrift. Adele setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke und entfaltete es.
„Meine Adele,“ stand dort. „Wenn du dieses Blatt findest, dann bist du den Spuren gefolgt, die ich dir hinterlassen habe. Ich wusste nie, ob ich den Mut haben würde, dir alles zu sagen. Darum habe ich es versteckt, an Orten, die uns gehören. Elisa hat diese Regale geliebt, und ich wollte, dass ihre Erinnerung uns auch hier führt.“
Adele hielt den Brief mit beiden Händen, als könnte er zerreißen. Der Raum um sie herum verschwamm, nur die Worte standen klar vor ihr. Sie las weiter.
„Ich habe dir nie erzählt, dass Elisa mich einmal bat, ihr ein Märchen vorzulesen, das ich selbst geschrieben habe. Es handelte von einem Hund, der seinem Menschen in alle Schatten folgte. Ich habe es nie fertiggestellt, weil die Schatten uns zu groß wurden. Aber vielleicht findest du die Stärke, es zu Ende zu denken. Denn du warst immer stärker, als ich es war.“
Adele schluckte. Die Worte trafen sie tiefer als erwartet. Sie dachte an Ilvo, an seine treuen Augen, an die Art, wie er Hennig folgte, ohne zu zögern. War das Märchen nicht längst wahr geworden?
Hinter dem Brief entdeckte sie noch ein zweites Blatt, kleiner, fast wie ein Zettel. Darauf stand nur ein Satz: „Schau dort, wo das Licht durch die Schiefe fällt.“
Adele verstand sofort. Die Oberkirche. Ihr schiefer Turm war das Wahrzeichen der Stadt, und das Licht, das durch die schrägen Fenster fiel, hatte schon immer eine besondere Stimmung erzeugt. Hennig musste diesen Ort gemeint haben.
Sie legte das Papier vorsichtig zurück in das Buch und schloss es. Einen Moment lang saß sie still, während die Stimmen anderer Besucher leise durch die Regale hallten. Dann stand sie auf, stellte das Buch zurück ins Regal, als hätte sie nichts gefunden, und verließ die Bibliothek.
Draußen war die Luft kühl, und die Wolken hingen schwer über den Dächern. Adele zog den Mantel enger um sich. Ihr Weg war nun klar. Sie musste zur Oberkirche. Dort wartete der nächste Teil von Hennigs Spuren.
Der Weg führte sie durch die engen Gassen, vorbei an alten Fachwerkhäusern, deren Balken Geschichten aus Jahrhunderten erzählten. Ihre Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster, und mit jedem Meter wuchs die Spannung in ihr. Sie fühlte sich, als wäre sie Teil eines geheimen Spiels, das ihr Mann noch zu Lebzeiten begonnen hatte.
Vor der Kirche blieb sie stehen. Der Turm neigte sich deutlich zur Seite, ein Wunder, dass er noch stand. Die schweren Mauern wirkten ehrwürdig, das große Holzportal verschlossen. Adele drückte dagegen, und die Tür gab nach. Ein kühler Luftzug empfing sie, und sie trat ein.
Das Licht fiel durch die hohen Fenster, gebrochen von der Schiefe des Turms. Es zeichnete schräge Muster auf den Boden, golden und staubig. Adele ging langsam durch den Raum, die Hände fest um das Tagebuch geschlossen.
Und dann sah sie es. In einer der Bänke, nahe dem Altar, war etwas eingeritzt. Ein Buchstabe, kaum größer als eine Kinderhand. Ein E. Der gleiche wie am Baum im Wald, der gleiche wie auf dem Anhänger.
Adele kniete sich nieder, strich mit den Fingern über das Holz. Das Zeichen war frisch genug, um nicht uralt zu sein, und doch alt genug, um von Hennig stammen zu können. Neben dem Buchstaben war ein kleines Fach, kaum sichtbar, als Teil der Bank gearbeitet.
Mit klopfendem Herzen öffnete sie es. Darin lag ein Umschlag, erneut an sie adressiert.
Und in der stillen Kühle der Kirche hielt Adele den Brief in den Händen, der ihr endlich die Wahrheit bringen sollte, vor der Hennig sein Leben lang geflohen war.