🐾 Teil 9: Der letzte Hinweis
Die Kerze war längst heruntergebrannt, als Adele noch immer am Küchentisch saß. Vor ihr lagen die Tagebücher, die Briefe und der letzte Brief aus der Oberkirche. Die Worte schienen in die Stille des Raumes eingraviert, als hätten sie mehr Gewicht als die Möbel um sie herum. Immer wieder blieb ihr Blick an der Zahl hängen, die Hennig auf so vielen Seiten hinterlassen hatte. 323.
Sie flüsterte sie leise vor sich hin, als könnte der Klang selbst eine Antwort geben. Nichts regte sich, außer dem Ticken der Uhr an der Wand. Doch plötzlich erinnerte sie sich an etwas. Elisa war am 23. März geboren. 23.3. – 323. Die Zahl war kein Rätsel, sondern ein Datum. Ein stummer Fingerzeig auf ihre Tochter.
Adele stand auf. Ihr Herz schlug schneller, während die Erkenntnis in ihr wuchs. Wenn Hennig dieses Datum immer wieder hinterlassen hatte, musste an Elisas Geburtstag etwas verborgen liegen. Vielleicht hatte er an diesem Tag eine Spur gelegt, vielleicht auch einen Ort gewählt, der mit diesem Datum verbunden war.
Sie ging ins Schlafzimmer und öffnete die unterste Schublade des Schranks. Dort lagen alte Fotoalben, die sie seit Jahren nicht mehr angerührt hatte. Behutsam zog sie eines heraus. Auf dem Einband war mit Goldschrift „Familie“ geprägt. Sie schlug es auf und blätterte durch die Seiten. Da war Elisa als Kind, lachend im Garten, mit Schürfwunden an den Knien. Hennig mit ihr auf dem Arm, Ilvo als junger Hund neben ihnen.
Dann blieb sie an einem Bild hängen. Elisa stand am Stillebach, barfuß, mit hochgekrempeltem Rock, das Wasser spritzte um ihre Knöchel. Auf der Rückseite hatte Hennig geschrieben: „23. März 2006“.
Adele legte das Album auf den Tisch. Ihre Hände zitterten. Es war, als füge sich das Puzzle zusammen. Der Bach war nicht nur Ort des Fundes gewesen, er war auch Erinnerung. Vielleicht war dort noch etwas verborgen, das sie bisher übersehen hatte.
Am nächsten Morgen brach sie auf. Der Himmel war grau, doch der Regen hielt sich zurück. Mit festem Schritt ging sie denselben Weg, den sie schon so oft gegangen war. Vorbei am moosigen Stein, hinunter zum Bach, wo die Luft kühl und feucht war.
Sie blieb an der Stelle stehen, an der sie das Kästchen gefunden hatte. Doch diesmal blickte sie genauer hin. Das Ufer war uneben, an manchen Stellen von Wurzeln durchzogen. Zwischen zwei dicken Baumwurzeln schimmerte etwas Metallisches.
Adele kniete sich hin und begann, die Erde beiseite zu schieben. Ihre Finger stießen auf eine kleine Kiste, noch kleiner als die erste, fest verschlossen. Diesmal brauchte sie keinen Schlüssel. Der Deckel war nur lose aufgelegt, als hätte Hennig gewollt, dass sie sie leicht finden konnte.
Sie öffnete die Kiste. Darin lag ein kleines Notizbuch, dünn, mit schwarzem Einband. Sie schlug es auf. Nur wenige Seiten waren beschrieben.
„23. März“, begann der erste Eintrag. „Heute wäre sie siebzehn geworden. Ich bin mit Ilvo hier am Bach. Er sitzt still neben mir, als wüsste er, dass dies ihr Tag ist. Ich schreibe, weil ich dir nicht in die Augen sehen kann. Dein Schmerz ist der meine, doch ich fürchte, wenn wir ihn teilen, zerbrechen wir beide.“
Adele schlug eine weitere Seite auf. Wieder das Datum, ein Jahr später. „Heute wäre sie achtzehn geworden. Ich habe das Bild von ihr im Wasser gesehen, wie sie lacht, wie sie lebt. Ich schreibe es hier auf, weil ich will, dass es bleibt. Wenn du es jemals liest, sollst du wissen, dass ich nicht aufgehört habe, an sie zu denken.“
Jede Seite war ein weiterer Geburtstag. Jahr für Jahr hatte Hennig hierher gefunden, um das aufzuschreiben, was er ihr nicht sagen konnte. Adele blätterte bis zur letzten Eintragung.
„Heute ist der letzte 23. März, den ich erlebe. Ich spüre es in meinem Körper. Ilvo liegt neben mir, sein Atem ist schwer. Vielleicht gehen wir beide bald. Aber wenn du dies findest, Adele, dann weißt du, dass ich dich nicht allein lassen wollte. Meine Liebe zu dir war nie in Worten, sie war in jedem Schritt, den ich mit ihm gegangen bin. Vergib mir, dass ich dir das erst jetzt sage.“
Adele legte das Büchlein auf ihre Knie. Ihr Blick verschwamm vor Tränen, doch ihr Herz war ruhig. Sie hörte das Rauschen des Wassers und stellte sich vor, wie Hennig Jahr für Jahr hier gesessen hatte, mit Ilvo an seiner Seite, immer im Schatten ihrer gemeinsamen Trauer.
Sie schloss die Kiste und hielt sie fest an sich. Dies war kein Rätsel mehr, keine Spurensuche. Es war ein Vermächtnis, ein leises Bekenntnis, das endlich zu ihr gefunden hatte.
Als sie aufstand und den Bach entlangging, fühlte sie sich zum ersten Mal seit Jahren leichter. Die Last war nicht verschwunden, doch sie hatte eine Form, die sie tragen konnte. Sie war nicht länger allein in ihrem Schweigen.
Und während das Wasser unaufhörlich floss, wusste Adele, dass nur noch ein letzter Schritt fehlte, um Frieden zu finden – der Schritt zurück zu sich selbst.