Seit drei Jahren liegt ein ungeöffnetes Amazon-Paket auf unserer Kommode. Es ist kein Karton. Es ist ein Grabstein.
Mein Name ist Thomas, ich bin 46 Jahre alt. In unserem Reihenhaus, in einem ruhigen Vorort, wo jeder Rasen akkurat gemäht ist und die Mülltonnen pünktlich an der Straße stehen, gibt es eine Anomalie.
Ein braunes Päckchen mit dem lächelnden Pfeil darauf. Es liegt auf der Eichenkommode im Flur. Seit 1.095 Tagen.
Meine Frau, Fabianne, geht jeden Tag daran vorbei. Wenn sie putzt, hebt sie die Vase an, sie hebt die Schale für die Autoschlüssel an. Aber das Paket? Das Paket umrundet sie mit dem Staubtuch vorsichtig, fast ehrfürchtig, ohne es zu berühren. Als wäre es aus hauchdünnem Glas. Oder aus Nitroglyzerin.
Es ist eine stille Abmachung zwischen uns. Ein Waffenstillstand mit der Trauer.
Timo hat es bestellt. Unser Sohn. Er war 14. Ein Wirbelwind mit Zahnspange und einem Lachen, das selbst die trübsten Novembertage in Bayern aufhellen konnte.
Unser Ritual war heilig: Freitagabend. Pizza vom Italiener im Dorf, zwei kalte Spezi und FIFA auf der Konsole. Er lachte laut, wenn er verlor, und fluchte leise – ganz der Vater –, wenn er gewann. Sein alter Controller hatte eine Macke. Die R2-Taste klemmte. „Papa, so kann ich dich nicht fair besiegen“, sagte er und grinste. Er bestellte einen neuen. Von seinem Taschengeld.
Das Paket kam zwei Tage später an. Zwei Tage, nachdem der LKW ihn an der Kreuzung zur Schule übersehen hatte. Es war ein nebliger Dienstagmorgen. Einer dieser Tage, an denen es gar nicht richtig hell werden will.
Ich hatte gerade erst gelernt, was es bedeutet, Vater zu sein, da musste ich lernen, was es heißt, nur noch eine Hälfte zu sein.
Der Postbote klingelte. Ein junger Kerl, er hatte es eilig, kaute Kaugummi. „Einmal unterschreiben, bitte.“ Ich unterschrieb. Meine Hand funktionierte mechanisch, während mein Herz längst stillstand. Er drückte mir die Pappschachtel in die Hand und rannte zurück zu seinem gelben Wagen. Er wusste nicht, dass er mir gerade einen Grabstein überreicht hatte.
Seitdem liegt es dort. Unversehrt. Versiegelt. Voll. Und doch so leer.
Besucher, die seltenen, die wir noch empfangen, wollen manchmal danach greifen. „Oh, ihr habt da noch ein Paket…“, sagen sie. Aber dann sehen sie meinen Blick. Oder Fabiannes starres Lächeln. Und sie lassen die Hand sinken. In Deutschland stellt man keine unangenehmen Fragen. Man wahrt die Fassade.
Ich lege meine Autoschlüssel daneben, als wäre nichts. Aber jedes Mal zittern meine Finger. Einmal fragte mich ein Kollege beim Bier: „Warum machst du es nicht einfach auf, Thomas?“ Ich schaute in mein Glas. „Warum?“
Ja, warum? Um zu sehen, was wir hätten tun können? Um das letzte Geschenk zu berühren, das er sich selbst gemacht hat?
Nein. Dieses Paket ist das Letzte, was uns verbindet. Es ist ein konkreter Gedanke, eine Handlung, die keine Zeit hatte, vollendet zu werden. Solange es zugeklebt bleibt, ist es, als würde Timo gleich durch die Haustür stürmen. „Sorry, Papa, der Bus hatte Verspätung. Wo ist mein Paket?“
Aber gestern Abend geschah etwas. Ich kam spät von der Arbeit. Das Haus war still. Fabianne schlief schon. Ich stand im Flur, nur das Licht der Straßenlaterne fiel herein. Ich starrte auf das Paket.
Und da sah ich es. Die Zeit ist grausam. Sie nimmt uns nicht nur die Menschen, sie nimmt uns auch die Spuren. Das Etikett auf dem Paket. Es ist Thermopapier. Nach drei Jahren Heizungsluft und Sonnenlicht verblasst die Schrift. Der Name „Timo“ war kaum noch zu lesen. Nur noch ein grauer Schemen auf weißem Grund.
Panik stieg in mir auf. Heiße, würgende Panik. Sein Name verschwand. Ich suchte nach einem Stift, wollte die Buchstaben nachziehen, aber meine Hand zitterte so stark, dass ich abrutschte. Ich sank auf den Boden, im dunklen Flur, den Rücken gegen die kalte Wand gepresst, und weinte. Nicht laut. Männer wie ich weinen leise. Wir schlucken es runter.
Da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Fabianne. Sie sagte nichts. Sie setzte sich einfach neben mich auf die Fliesen. Wir saßen da, zwei Schatten neben einem verblassenden Karton.
„Ich hasse dieses Ding“, flüsterte sie plötzlich. Ihre Stimme war brüchig. Ich sah sie entsetzt an. „Es ist wie ein Geist, Thomas“, fuhr sie fort. „Du starrst jeden Tag darauf. Du starrst in eine Zukunft, die es nicht gibt. Und dabei übersiehst du mich. Ich bin hier. Ich lebe. Und ich vermisse ihn auch. Aber ich kann nicht gegen einen Karton konkurrieren.“
Sie hatte recht. Wir hatten das Wohnzimmer zum Museum gemacht und den Flur zum Schrein. Wir waren Wächter eines Lebens, das vorbei war, und vergaßen dabei, unser eigenes zu leben.
Ich stand auf. Ich nahm das Paket. Es war leichter, als ich es in Erinnerung hatte. „Sollen wir es öffnen?“, fragte Fabianne leise. Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“
Wenn ich es öffne, finde ich nur Plastik und Elektronik. Eine kalte, tote Sache. Wir gingen zusammen in Timos Zimmer. Es roch immer noch schwach nach seinem Deo und alten Büchern. Ich stellte das ungeöffnete Paket oben auf seinen Kleiderschrank. Ganz nach hinten. Es gehört zu ihm. Aber es gehört nicht mehr in unseren Weg.
Dann tat ich etwas, das ich seit drei Jahren nicht getan hatte. Ich steckte den Stecker der Konsole ein. Das kleine rote Licht wurde grün. Ich nahm die Controller. Nicht den neuen aus dem Paket. Sondern die alten.
Ich gab Fabianne den guten. Ich nahm den defekten. Den mit der klemmenden R2-Taste. Ich hielt ihn in meinen Händen. Das Plastik war abgegriffen. An den Rändern waren kleine Kratzer.
Und plötzlich spürte ich ihn viel deutlicher als bei dem Paket im Flur. Hier waren seine Fingerabdrücke. Hier war sein Schweiß, seine Wut über ein verlorenes Spiel, seine Freude über ein Traumtor. Nicht in dem neuen, perfekten Gerät, das im Karton wartete. Sondern in dem alten, kaputten Ding, das er benutzt hatte. Das Leben hinterlässt Spuren. Abnutzung ist der Beweis, dass wir gelebt haben.
„Ich habe keine Ahnung, wie das geht“, sagte Fabianne und drehte den Controller unbeholfen in ihren Händen. Tränen liefen über ihre Wangen, aber sie lächelte. „Ich zeig es dir“, sagte ich. Meine Stimme war fest.
In dieser Nacht spielten wir. Fabianne verlor haushoch. Wir weinten und wir lachten, zum ersten Mal seit drei Jahren gleichzeitig.
Das Paket liegt jetzt im Schrank. Die Schrift wird irgendwann ganz verschwinden, und das ist in Ordnung. Denn wir brauchen keinen Karton, um ihn festzuhalten. Wir müssen nicht das bewahren, was hätte sein können. Wir müssen das ehren, was war.
Und manchmal, wenn die R2-Taste klemmt und mein Spieler den Ball ins Aus schießt, dann weiß ich: Das ist kein technischer Defekt. Das ist Timo, der mich auslacht. Und das ist okay.
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