Das ungeöffnete Paket im Flur und der Controller, der uns heilte

Am nächsten Morgen stand ich im Flur und brauchte einen Moment, um zu begreifen, was anders war. Keine braune Kante mehr auf der Kommode, kein lächelnder Pfeil, kein stummer Vorwurf auf Thermopapier.

Nur die Eichenplatte, die Vase, die Schale für die Autoschlüssel – und eine helle, staubfreie Rechteckspur, als hätte das Holz drei Jahre lang die Luft angehalten.

Fabianne kam hinter mir aus der Küche, noch im Schlafanzug, die Haare zerzaust, die Augen verquollen von der Nacht. Sie blieb neben mir stehen und sah auf die leere Stelle.

„Es fühlt sich falsch an“, sagte sie.

„Es fühlt sich ruhig an“, antwortete ich, und merkte, wie meine Stimme an dem Wort hängen blieb, als dürfte man es nicht aussprechen.

Wir schwiegen, und in diesem Schweigen war etwas Neues. Nicht Frieden, nicht Glück. Eher so etwas wie: Wir hatten einen Stein vom Weg gerollt und sahen zum ersten Mal seit Jahren den Boden darunter.

In der Arbeit hielt ich mich an den Kaffeeautomaten wie an einem Geländer. Ich tat, was ich immer tat. Mails, Zahlen, ein Gespräch über Weihnachtsplanung, als wäre es irgendein Donnerstag.

Aber mein Kopf war im Flur, bei der hellen Spur, und in Timos Zimmer, oben auf dem Schrank, ganz hinten, wo ein Paket lag wie ein Satz, den man nie zu Ende geschrieben hatte.

Als ich abends heimkam, war die Konsole schon an. Ein grünes Licht im Wohnzimmer, klein und trotzig. Fabianne saß auf dem Teppich, die Beine angewinkelt, den Controller in beiden Händen, als würde sie ihn wärmen.

Auf dem Bildschirm stand ein Menü, und irgendwo spielte eine ungeduldige Musik, die so tat, als wäre das Leben ein Spiel, das man jederzeit neu starten kann.

Sie sah mich an und lächelte schief. „Ich hab’s geschafft, ohne dich.“

„Das ist unfair“, sagte ich.

„Ich übe“, sagte sie. „Damit du nicht immer gewinnen musst.“

„Ich gewinne nicht“, murmelte ich und setzte mich neben sie. „Ich stolpere nur weniger.“

Wir spielten. Nicht lange, nicht gut. Mein Spieler schoss zweimal ins Aus, weil die R2-Taste klemmte, und jedes Mal spürte ich diesen Stich, dieses alberne, zärtliche Ziehen, als würde jemand hinter mir kichern. Ich wollte nicht mehr gegen den Stich kämpfen. Ich ließ ihn da sein, wie man einen Regen auf dem Dach hört: traurig, aber echt.

In der dritten Partie hielt Fabianne plötzlich inne. Der Ball lief weiter, mein Spieler rannte wie ein Idiot ins Leere, aber sie bewegte den Controller nicht.

„Thomas“, sagte sie leise.

„Hm?“

„Wir müssen reden“, sagte sie. Und ich hasste diesen Satz, weil er meistens bedeutete: Es wird wehtun.

Ich hielt an. Der Bildschirm fror nicht ein, aber etwas in mir tat es. Ich sah auf ihre Hände. Ihre Finger waren rot an den Knöcheln, als hätte sie zu fest zugepackt.

„Nicht… nicht jetzt über Trennung“, sagte ich schnell, zu schnell.

Sie schüttelte den Kopf, aber in ihren Augen lag ein Flackern, als hätte sie den Gedanken auch schon besucht. „Nein. Nicht so. Ich…“ Sie schluckte. „Ich weiß nur nicht, wie man wieder ein Paar ist, ohne dass alles um ihn kreist.“

Das Wort „ihn“ hing zwischen uns wie Staub im Sonnenlicht. Man sah es, sobald man hinsah.

„Wir sind doch ein Paar“, sagte ich, und es klang wie eine Behauptung, die ich selbst überprüfen musste.

„Wir sind zwei Menschen im selben Haus“, sagte sie. „Und manchmal sind wir zwei Wächter an einem Grab.“

Ich schluckte. Mein Hals war trocken. „Was willst du?“

Sie nahm einen Atemzug, als würde sie in kaltes Wasser steigen. „Ich will, dass wir ihn nicht verlieren. Aber ich will auch nicht dich verlieren. Und nicht mich.“

Ich nickte, obwohl ich nicht wusste, ob ich zustimmte oder nur kapitulierte. Dann sagte ich etwas, das ich drei Jahre lang nicht gesagt hatte, weil ich dachte, Männer sagen sowas nicht.

„Ich hab Angst“, sagte ich.

Fabianne blinzelte, als hätte ich ihr eine fremde Sprache gezeigt. „Wovor?“

„Vor allem“, sagte ich. „Dass wir ihn vergessen. Dass wir uns vergessen. Dass ich irgendwann in der Küche stehe und nicht mehr weiß, wie seine Stimme klang, und gleichzeitig nicht mehr weiß, wie deine Hand sich anfühlt, wenn du nicht weinst.“

Ihre Lippen bebten. Sie legte den Controller weg und nahm meine Hand. Ihre Finger waren warm, und ich erschrak, wie lange es her war, dass ich diese Wärme bewusst wahrgenommen hatte.

„Dann lass uns lernen“, flüsterte sie. „Wie man das aushält.“

Am Wochenende nahm sie einen Zettel aus der Schublade, auf dem seit Monaten eine Nummer stand, die wir nie angerufen hatten. Eine Trauerbegleiterin, empfohlen von irgendeiner Kollegin. Der Zettel war an den Ecken fettig, als hätte er zu oft zwischen Alltagskram gelegen und doch nie dazugehört.

Fabianne hielt ihn mir hin. „Heute.“

Ich sah auf die Nummer, als könnte sie explodieren. „Was sollen wir da sagen?“

„Dass wir feststecken“, sagte sie. „Dass wir uns gegenseitig verlieren, während wir versuchen, ihn festzuhalten.“

Ich nickte. Meine Hand zitterte, als ich wählte. Es klingelte zweimal, dreimal, und dann war da eine Stimme, ruhig und unspektakulär. Keine Dramamusik, kein großes Gefühl. Nur eine Frau, die „Guten Tag“ sagte, als wäre Trauer ein ganz normales Thema, wie Zahnarzttermine.

„Mein Name ist Thomas“, sagte ich. „Es geht um unseren Sohn. Er ist vor drei Jahren gestorben. Und… wir haben ein Paket.“

Ein kurzer Moment Stille. Kein Schock, keine unpassende Floskel. Dann: „Kommen Sie vorbei. Sie müssen das nicht alleine tragen.“

Als wir eine Woche später im Wartezimmer saßen, roch es nach Tee und nach diesen neutralen Duftstäbchen, die alles und nichts sein wollen.

An der Wand hing ein Bild von einem See im Nebel. Ich hätte fast gelacht, weil es so klischeehaft war. Aber ich lachte nicht. Ich starrte auf meine Schuhe und dachte daran, wie der echte Nebel an diesem Dienstagmorgen war, an der Kreuzung, wo ein LKW ihn übersehen hatte.

Fabianne saß neben mir und rieb mit dem Daumen über ihren Ehering, immer wieder, als wolle sie ihn polieren, bis er wieder glänzt wie früher. Ich legte meine Hand auf ihr Knie. Sie zuckte nicht weg.

Die Frau, die uns reinbat, hatte graue Haare und eine Stimme, die nicht so tat, als wäre sie klüger als wir. Sie stellte keine großen Fragen am Anfang. Sie ließ uns erzählen. Und wir erzählten. Timo, FIFA, die R2-Taste, der Postbote, das Thermopapier, der Flur als Schrein.

Als Fabianne an der Stelle kam, wo sie sagte, sie könne nicht gegen einen Karton konkurrieren, fing sie an zu weinen. Nicht schön. Nicht filmreif. Einfach nur echt. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als könnte sie das Geräusch festhalten.

Ich wollte sie retten, wie ich immer retten wollte. Ich wollte sagen: „Ist doch gut, ist doch gut.“ Aber die Frau hob nur leicht die Hand.

„Lassen Sie sie“, sagte sie ruhig.

Und ich ließ sie. Ich saß da und spürte, wie schwer Nicht-Retten sein kann.

Als Fabianne sich beruhigt hatte, fragte die Frau: „Wo ist das Paket jetzt?“

„In seinem Zimmer“, sagte ich. „Oben auf dem Schrank.“

„Und was hat sich dadurch verändert?“ fragte sie.

Ich suchte nach Worten. Ich dachte an die helle Spur auf der Kommode. „Der Flur… ist wieder ein Flur“, sagte ich schließlich. „Aber es fühlt sich auch an, als hätten wir ihn… weggestellt.“

Fabianne schüttelte den Kopf, langsam. „Nein“, sagte sie heiser. „Wir haben nicht ihn weggestellt. Nur dieses Ding.“

Die Frau nickte, als wäre das ein wichtiger Satz, den man irgendwo festhalten sollte. „Gegenstände werden oft zu Stellvertretern“, sagte sie. „Nicht weil sie die Person ersetzen. Sondern weil sie etwas tragen, was zu schwer ist, um es direkt zu halten.“

Ich spürte, wie sich etwas in mir anspannte. „Und wenn man es loslässt, fällt alles runter“, sagte ich.

„Oder es verteilt sich“, sagte sie. „Auf zwei Schultern. Auf Worte. Auf Rituale. Auf Erinnerungen, die nicht in Pappe verpackt sind.“

Rituale. Das Wort klang nach Kirche und Pflicht. Aber als wir nach Hause fuhren, merkte ich, dass wir seit drei Jahren ein Ritual hatten – nur eben ein krankes. Das tägliche Vorbeigehen am Paket. Das tägliche Nicht-Berühren. Das tägliche Schweigen.

In der folgenden Woche schlug Fabianne vor, etwas zu tun, das mir den Magen zusammenzog.

„Lass uns in sein Zimmer gehen“, sagte sie abends.

„Wir waren doch da“, sagte ich.

„Nicht… so“, sagte sie. „Nicht nur, um das Paket hochzustellen. Lass uns… wirklich da sein.“

Timos Zimmer war immer noch zu ordentlich, weil Fabianne es so hielt. Als würde Unordnung bedeuten, dass er nicht zurückkommt. Auf dem Schreibtisch lag ein altes Heft, in das er mit krakeliger Handschrift Namen von Spielern geschrieben hatte. Auf dem Regal standen Bücher, die er halb gelesen hatte. Nichts bewegte sich, aber alles war voller Bewegung, wenn man genau hinsah.

Wir stellten uns unter den Schrank. Ich spürte, wie mein Blick automatisch nach oben wanderte, dorthin, wo das Paket lag, unsichtbar von unten, aber doch präsent wie ein Gedanke.

Fabianne zog eine kleine Kiste aus dem Schrank, die ich noch nie gesehen hatte. Eine Schuhschachtel, beklebt mit alten Stickern. Sie stellte sie auf den Boden.

„Was ist das?“ fragte ich.

„Ich hab sie nach dem Unfall gefunden“, sagte sie leise. „Unter seinem Bett. Ich konnte sie nicht…“ Sie brach ab. „Ich hab sie nie geöffnet.“

Ich sah sie an, und diesmal war es nicht ein Paket von außen, nicht ein Versandding. Es war etwas aus ihm heraus. Ein Stück von seinem Zimmer, von seinem Leben. Mein Herz klopfte in den Ohren.

„Sollen wir?“ fragte ich.

Fabianne nickte. Ihre Hand lag schon auf dem Deckel. Sie zögerte nicht, wie ich erwartet hätte. Als hätte sie drei Jahre lang genau auf diesen Moment zugesteuert, ohne es zuzugeben.

Wir öffneten die Kiste.

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