Oben drauf lag ein zerknittertes Blatt Papier. Darauf stand in seiner Handschrift: „Für später.“
Ich musste lachen, ein kurzer, hässlicher Laut, der sofort in ein Schluchzen kippte. Fabianne presste die Lippen zusammen, als wolle sie das Zittern darin einschließen.
Unter dem Zettel waren Kleinigkeiten. Ein Schlüsselanhänger, den er einmal auf einem Schulausflug gekauft hatte. Ein Fußballaufkleber. Ein Foto von ihm und zwei Freunden, unscharf, wahrscheinlich heimlich im Bus gemacht. Und dann, ganz unten, ein kleiner Umschlag.
Auf dem Umschlag stand: „Mama und Papa.“
Fabianne hielt ihn, als würde er brennen. Sie sah mich an, als müsste ich ihr erlauben, ihn zu öffnen. Ich nickte, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob ich das aushalten würde.
Der Brief war kurz. Timo war 14, kein Dichter, aber er hatte eine Direktheit, die weh tat.
Er schrieb, dass er manchmal Angst habe, dass wir ihn irgendwann nicht mehr so mögen, wenn er älter wird. Dass er wisse, dass er nervt, wenn er zu laut lacht. Dass er uns aber liebt. Dass er froh ist, dass wir Freitagabend immer Pizza holen und zusammen spielen. Und dass er sich wünscht, dass wir das auch machen, wenn er mal auszieht.
Am Ende stand: „Wenn ich groß bin, kaufe ich euch eine neue Konsole, damit ihr auch spielen könnt, wenn ich keine Zeit hab. Aber bis dahin hab ich mir erstmal einen Controller gekauft, damit ich dich fair besiegen kann, Papa.“
Fabianne machte ein Geräusch, irgendwo zwischen Lachen und Weinen. Ich starrte auf die Zeilen, und plötzlich war das Paket oben auf dem Schrank nicht mehr nur Grabstein. Es war Teil eines größeren Satzes. Ein Controller, ja. Aber auch ein Wunsch, ein „bis später“, ein Vertrauen, dass später kommt.
„Er hat an uns gedacht“, flüsterte Fabianne.
„Natürlich“, sagte ich, und meine Stimme brach. „Natürlich hat er das.“
Wir saßen auf dem Boden, mitten in seinem Zimmer, mit dem Brief zwischen uns, und es war, als würde sich eine Tür in mir einen Spalt öffnen. Nicht die Tür, durch die er zurückkommt. Diese Tür gibt es nicht. Aber eine andere: die Tür zu einem Leben, in dem er nicht nur als Unfall existiert, sondern als Junge mit Zahnspange, der fair gewinnen wollte.
In der Nacht danach träumte ich von der Kreuzung. Ich sah den Nebel, hörte Bremsen, aber diesmal war da auch sein Lachen. Es war absurd, es war grausam, und es war… lebendig. Ich wachte auf und lag lange wach.
Neben mir atmete Fabianne ruhig. Ich drehte mich zu ihr, sah ihre Schulter im Halbdunkel, und legte vorsichtig die Hand darauf. Wie damals im Flur. Wie eine Rückkehr in etwas, das wir fast verlernt hatten.
Am nächsten Freitag holten wir Pizza. Nicht vom Italiener im Dorf – ich konnte den Laden nicht betreten, ohne Timo an der Tür stehen zu sehen, breit grinsend, Spezi in der Hand. Wir holten sie woanders, ein paar Straßen weiter. Es schmeckte anders, aber das war vielleicht der Punkt: Es ging nicht um Originaltreue. Es ging um Fortsetzung.
Wir stellten die Kartons auf den Couchtisch. Fabianne zog zwei Spezi aus dem Kühlschrank. Sie hielt eine hoch wie bei einem Toast, und ihre Hand zitterte.
„Auf ihn“, sagte sie.
„Auf uns“, sagte ich.
Wir stießen an. Das „Klack“ war klein, aber es klang wie ein Versprechen.
Als wir später spielten, passierte etwas Merkwürdiges. Nicht im Spiel. In mir. Ich merkte, dass ich nicht mehr ständig nach oben schaute, dorthin, wo das Paket früher im Flur lag, unsichtbar und doch alles beherrschend.
Ich schaute auf Fabianne. Auf ihre Stirnfalte, wenn sie sich konzentrierte. Auf das kleine Lächeln, wenn ihr ein Pass gelang, der eigentlich Zufall war.
„Ich hab getroffen!“ rief sie plötzlich, so laut, dass ich zusammenzuckte.
Dann lachte sie, erschrocken über sich selbst, und sah mich an, als hätte sie etwas Verbotenes getan.
Ich grinste. „Du wirst gefährlich.“
„Sag das nicht“, sagte sie, aber ihre Augen glänzten. „Sonst glaube ich es noch.“
Wir spielten weiter. Die R2-Taste klemmte, mein Spieler schoss ins Aus, und ich spürte wieder dieses Kichern in meinem Nacken. Diesmal tat es nicht nur weh. Es tat auch gut. Wie ein kleiner Tritt von innen, der sagt: Ich bin noch irgendwo in dir.
Später, als der Bildschirm dunkel war und der Raum nur noch von der Straßenlaterne beleuchtet wurde, stand Fabianne auf und ging zum Fenster. Sie zog den Vorhang ein Stück zurück und sah hinaus auf die ruhige Straße, auf die akkurat gemähten Rasenflächen, die pünktlichen Mülltonnen, die Welt, die so tut, als wäre alles kontrollierbar.
„Denkst du manchmal“, sagte sie, ohne sich umzudrehen, „dass die Leute uns beobachtet haben? Als das Paket da lag?“
„Ja“, sagte ich. „Und ich hab’s gehasst.“
Sie nickte. „Ich auch. Ich dachte immer, sie denken: Die kommen nicht klar. Und dann habe ich gedacht: Sollen sie doch.“
Ich stand auf und trat neben sie. Draußen war nichts Besonderes. Eine Laterne summte. Ein Auto fuhr vorbei. Normales Leben. Das war fast das Erschreckendste daran.
„Was machen wir mit dem Paket?“ fragte sie plötzlich.
Mein Magen zog sich zusammen, als hätte sie das Wort „Kreuzung“ gesagt. „Es bleibt da“, sagte ich sofort. „In seinem Zimmer.“
„Für immer?“
Ich atmete aus. Ich wollte eine klare Antwort, eine stabile, wie ein Karton. Aber das Leben war nicht stabil. Es war weich und rissig.
„Ich weiß es nicht“, sagte ich ehrlich. „Vielleicht… irgendwann.“
Fabianne drehte den Kopf zu mir. „Ich will nicht, dass es unser neues Denkmal wird“, sagte sie. „Oben auf dem Schrank, nur damit wir uns einreden können, wir hätten es gelöst.“
Ich schluckte. Sie hatte recht. Wir waren gut darin, Dinge zu verschieben, nicht darin, sie zu verwandeln.
„Was schlägst du vor?“ fragte ich.
Sie zögerte, dann sagte sie etwas, das mich überraschte. „Vielleicht öffnen wir es. Nicht, weil wir müssen. Sondern weil wir entscheiden wollen. Nicht das Paket soll entscheiden.“
Mir wurde heiß. Mein erster Impuls war Abwehr. Ich sah vor mir den Controller, neu, kalt, unbenutzt, und ich fühlte die ganze Sinnlosigkeit. Aber dann dachte ich an den Brief. An „Für später“. An den Wunsch, dass wir weitermachen.
„Nicht heute“, sagte ich.
Fabianne nickte. „Nicht heute. Aber… irgendwann.“
Wir gingen die Treppe hoch, leise, als wäre das Haus ein schlafendes Tier. Timos Zimmer war dunkel. Wir schalteten das Licht nicht an. Ich trat an den Schrank, stellte mich auf die Zehenspitzen und tastete nach dem Paket. Meine Finger berührten die Pappe. Sie war kühl. Ich zog es ein Stück nach vorne, nur so weit, dass ich es sehen konnte.
Das Etikett war fast leer. Nur Schatten von Buchstaben. Sein Name war wirklich dabei zu verschwinden.
Ich holte einen dicken, schwarzen Filzstift aus der Schublade. Fabianne stand hinter mir, hielt die Luft an. Meine Hand zitterte, aber weniger als im Flur damals. Ich setzte die Spitze an die Pappe, nicht aufs Etikett. Direkt daneben, auf das braune Material, wo nichts verblassen würde, weil es nicht Thermopapier war.
Langsam schrieb ich: Timo.
Nicht schön, nicht gerade. Aber deutlich.
Fabianne atmete aus, als hätte sie drei Jahre lang die Luft angehalten. Ich spürte ihre Hand an meinem Rücken.
„So“, flüsterte sie. „So ist er da. Nicht als Geist. Als Name.“
Ich stellte das Paket wieder ganz nach hinten. Es gehörte zu ihm, ja. Aber es gehörte nicht mehr in unseren Weg. Und sein Name würde nicht verschwinden, nur weil ein Etikett es tat.
Als wir das Zimmer verließen, blieb ich einen Moment in der Tür stehen. Ich hörte nichts. Kein Lachen, kein Schritt, kein „Papa!“. Nur die Stille, die ein Haus hat, wenn es wieder ein Haus sein darf.
Unten im Wohnzimmer lag der defekte Controller auf dem Tisch, als wäre er achtlos liegen gelassen worden. Ich nahm ihn noch einmal in die Hand. Die R2-Taste klemmte, wie immer. Ich drückte sie, spürte den Widerstand, das kleine, störrische „Nein“ im Plastik. Und ich musste lächeln.
„Wenn du mich auslachst“, murmelte ich in die leere Luft, „dann lach wenigstens richtig.“
Fabianne drehte sich im Türrahmen um. „Was hast du gesagt?“
„Nichts“, sagte ich, und diesmal war es kein Ausweichen. Es war ein Geheimnis, das nicht mehr weh tat.
Sie kam zurück, stellte sich neben mich, und wir sahen beide auf den Controller, als wäre er ein alter Schlüssel zu einer Tür, die nicht mehr verschlossen war.
„Morgen wieder?“ fragte sie.
Ich nickte. „Morgen wieder.“
Und als ich später im Bett lag, merkte ich, dass ich nicht mehr an das Paket dachte, als wäre es ein Grabstein. Ich dachte an einen Freitagabend, an Pizza und Spezi, an ein Lachen, das selbst trübe Novembertage aufhellen konnte.
Und an die einfache, harte Wahrheit, die sich langsam in uns einarbeitete, wie Licht in einen Flur, der wieder ein Flur geworden war: Dass man niemanden festhält, indem man stehen bleibt.
Man hält ihn fest, indem man weitergeht.






